249 – Der kleine Wipp-Voyeur

Wolfgang Cziesla: DER FIRWITZ – 249. Teilabriss

 Der kleine Wipp-Voyeur

Ulla Wandeck schulte mich in Unauffälligkeit. Auch vor unserem Spiel auf der Wippe habe ich den Mädchen unter den Rock geschaut. Aber das war nie ein großes Thema, zumindest keines, das mir peinlich gewesen wäre. Durch Ulla erst verlor das Hingucken seine Unschuld; mit der Wippe begann die Verstohlenheit.

In den Sechzigerjahren fuhren wir in den großen Ferien regelmäßig nach Oberbayern. Die Eltern saßen im Garten einer Gastwirtschaft mit Aussicht auf die grünen Hügel und sich dahinter erhebende Berge. Zum Lokal gehörte eine Wiese mit einer Wippe für die Kinder der Feriengäste, die mir außer Ulla fremd blieben.

Meine Eltern hatten das zwei oder drei Jahre ältere Mädchen wohl in den Familienurlaub mitgenommen, um Frau Wandeck – einer Nachbarin aus der Nachkriegszeit, als die Familien eng zusammenwohnten – einen Gefallen zu tun (einen Herrn Wandeck habe ich nie kennengelernt). Vielleicht machte sich Mutter aber auch Sorgen wegen meiner Neigung zu autistischen Beschäftigungen und wollte mir eine Gefährtin an die Seite geben. Oder sie wollte sich von der Trauer um ihre Mutter ablenken, die kurz zuvor gestorben war und wodurch auf der Rückbank unseres VWs Käfer zwischen Luftmatratze und Kühltasche einen Platz für ein zweites Kind frei wurde. Obwohl ich meine Oma liebte, kam es mir entgegen, dass die Ausflüge auf den Spuren Ludwig Ganghofers nicht länger notwendig waren. Lieber durchforste ich mit Ulla Stapel älterer „Bravos“ – „Yeah, yeah, yeah“ statt „Der Mann im Salz“. Ulla, fast schon ein Teenager, trug das Haar am Hinterkopf hochtoupiert und versuchte mir beizubringen, Twist zu tanzen. Aber sie war noch Kind genug, um sich an den Spielen von uns jüngeren zu beteiligen.

Auf der Wippe versuchten wir den idealen Schwebezustand zu erzeugen, verlagerten unsere Körper mal mehr zum Kipppunkt der Wippe, mal mehr an ihre Enden, setzten, stellten oder legten uns auf das lange Brett. Irgendwann, als sich Ulla und ich auf derselben und zwei oder drei Kinder auf der anderen Seite der Wippe befanden, entwickelte ich die Theorie, die perfekte Balance müsse erreicht sein, wenn sich Ulla ganz außen aufs Brett stellte und ich mich vor sie hinlegte. Unvergesslich bleibt mir ihr höhnischer Ausruf: „Damit du mir unter den Rock schauen kannst, was!“

Ich war ertappt. Ein Anfängerfehler, leicht zu durchschauen. Der Vorwitz musste künftig der Vorsicht weichen. Zugegeben, meinem Vorschlag waren keine statischen Berechnungen vorausgegangen, doch zumindest zur Erlangung meines persönlichen Equilibriums war ich von der Richtigkeit dieser Anordnung überzeugt.

Mit der Zeit lernte ich die Techniken meiner Schaulust zu verfeinern, konstruierte raffiniertere Versuchsanordnungen, bediente mich optischer Hilfsmittel und brach für den Voyeurismus eine Lanze, indem ich eine Doktorarbeit über Diana im Bade und die Neubewertung des Sehens in der frühen Neuzeit schrieb.

Wozu der Aufwand? Der Drang, auf weibliche Körperteile zu blicken, begleitet mich seit meiner Kindheit und ist nicht eine erst mit der Pubertät einsetzende Entwicklung. Schon in den ersten Volksschuljahren schmachtete ich die Kniekehlen mancher Mitschülerinnen an, die vor mir die Treppe zu den Klassenräumen hochstiegen. Solche Anblicke scheinen einem Grundbedürfnis zu entsprechen, vergleichbar dem Wunsch nach ausreichender Nahrung oder nach genügend Schlaf. Doch während meine Eltern mit einer manchmal geradezu mich nötigenden Fürsorge darauf achteten, dass ich tüchtig aß, und ich auch niemals unter Schlafentzug zu leiden hatte (außer an dem einen Tag im Sommer, an dem wir uns um fünf Uhr morgens auf den Weg zu unserem bayrischen Urlaubsziel machten), gelang es mir auch mit den Ulla Wandecks meines späteren Lebens nicht, eine auch nur halbwegs stabile Balance herzustellen.

Wären zwischen dem, womit das Leben immerzu geizte, und dem, was ich stets im Überfluss bekommen sollte, die Gewichte anders verteilt gewesen, womöglich wäre ich heute ein anerkannter Schlafforscher oder ein Verfasser von Kochbüchern.

 

[abgedruckt in: Mein heimliches Auge. Das Jahrbuch der Erotik XXVI, Tübingen 2011, S. 129–131]