248 – Die Entdeckung des Voyeurs

Wolfgang Cziesla: DER FIRWITZ – 248. Teilabriss

Die Entdeckung des Voyeurs

Noch einmal Aktaion – und jetzt richtig:

Das Bild (oder auch die Geschichte) zerfällt in zwei Teile. Augenfällig ist die Aufteilung: Aktaion einmal als Mann, das andere Mal als Hirsch. Jäger und Gejagter. Täter und Opfer. Der Kipppunkt ist nicht das erste Auftauchen der Frau, sondern Aktaions Entdecktwerden durch sie.

Bis dahin war Aktaion autark. Er war der Herr über seine Welt und die Hunde, und auch über die sich noch unbeobachtet fühlende Frau. Der Einzige und sein Eigentum. Das Subjekt der Welterfahrung, das einzige Subjekt, das es gibt. Die Welt ist seine Idee. Es existiert keine andere.

Indem Diana ihn entdeckt, taucht ein zweites Subjekt auf. Ein Bewusstsein außerhalb seiner selbst. Mit notwendigerweise einer anderen Sicht, einer umgekehrten Perspektive. Sie sieht ihn. Sie ist das Subjekt, er das Objekt. Er verliert die Deckung, wird entdeckt. Damit lässt sich sein radikaler Subjektivismus, die extremste Ausprägung des Idealismus, nicht länger halten. Er wird zu Materie. Neben Platon tritt Aristoteles, die Mathematik, die messbare Welt. Mit seiner Objektivierung wird Aktaion relativiert, verliert die Herrschaft, die Kontrolle über die Hunde, die nicht mehr die seinen sind. Er ist ein Tier unter Tieren, ein gejagtes Tier.

Das Bild (und die Geschichte) von Aktaion zerfällt in einen idealistischen Teil (vor seiner Entdeckung) und einen materialistischen. Die Philosophiegeschichte des Abendlands spiegelt sich im Mythos von Diana und Aktaion. Die Frage nach dem Bewusstsein und einer möglichen Realität außerhalb von Bewusstsein.

Aber die Geschichte spiegelt auch ein Kindheitserlebnis eines jeden Menschen – die Entdeckung, dass es den anderen gibt. Dass die eigene unschuldige Leidenschaft bei dem anderen an eine Grenze stößt.

Meine Urerfahrung als ertappter Voyeur beschreibe ich in der Geschichte:

 

249. Teilabriss

Der kleine Wipp-Voyeur

 

[abgedruckt in: Mein heimliches Auge. Das Jahrbuch der Erotik XXVI, Tübingen 2011, S. 129]