004 – Wäscheklammerblues

Wolfgang Cziesla: DER FIRWITZ – 4. Teilabriss

WÄSCHEKLAMMERBLUES

 

Oft hatte mich Mutter zum Wäscheaufhängen auf den Trockenboden mitgenommen. Ich half ihr, den Korb mit der feuchten Wäsche aus der kühlen Waschküche die Kellertreppe hoch und durchs Treppenhaus zu tragen, wo uns spätestens ab der vierte Etage der Holzgeruch der Balken und Dielen empfing. Im Sommer staute sich die Hitze unter den Dachpfannen.

An den Längsseiten des Dachs befanden sich jeweils drei Luken, die sich nach oben öffnen und mit einem gelochten Metallstab arretieren ließen. Eine dreistufige Trittleiter aus Holz wechselte immerzu den Platz und stand mal unter der einen, mal unter der anderen Luke. Die Straße war von der Dachschräge verdeckt, aber die Welt aus Dachpfannen und Schornsteinen war spektakulär. Die Schule verschwand hinter den Wohnblocks; rechts ein Kirchturm und am Horizont die Hügel, die das Ruhrtal einfassen. Auf der obersten Stufe der Trittleiter konnte ich gerade einmal mit dem Kopf durch die Luke schauen, doch Mutter befürchtete immer, dass ich „das Übergewicht kriege“ und in die Tiefe stürze. Trotzdem verging kein Besuch des Dachbodens, ohne zuerst auf die Leiter zu steigen und eine der Luken zu öffnen.

Mutter hatte dann bereits mit dem Aufhängen der Wäsche begonnen. Jedoch nicht so, wie es zu sein hatte. Nachdem die alten Holzklammern durch bunte Plastikklammern abgelöst worden waren, schien es mir notwendig, jedes Teil mit Klammern in ein und derselben Farbe aufzuhängen, passend zu dem jeweiligen Wäschestück. Die gelbe Bluse nicht etwa mit einer roten und einer blauen, sondern mit zwei grünen Klammern; für das dunkelblaue Hemd kamen nur zwei weiße in Frage, und für die schwarzen Socken nur rote. Wenn meine eher pragmatisch vorgehende Mutter solche Regeln nicht beachtete, hatte ich sie zu korrigieren.

Bis in die Gegenwart gehe ich an jedes Wäscheaufhängen wie an die Schaffung eines Kunstwerks heran. Wäre ich ein Künstler mit merkantiler Durchsetzungskraft, hätte ich die wöchentlich wechselnden Farbkombinationen der Klammern vielleicht fotografisch dokumentiert und ganze Serien meiner Aufhängkunst in Galerien und Museen ausstellen lassen. Meditativ klammere ich T-Shirts und Socken ans Trockengestell, als hätte ich das von einem japanischen Zen-Meister gelernt. In Wirklichkeit handelt es sich um Wissen, das aus meiner Kindheit herrührt.

Wie bei den Fußballbildern, die ich mit sieben oder acht Jahren sammelte. Das durchgängige Rot von Trikots, Sporthosen und Stutzen der Kaiserslauterer oder das Rot-Schwarz von Hannover 96 liebte ich, ebenso das grün-gelb-blaue Brasilien. Das Grün-Weiß von Werder Bremen oder das Hertha-Blau-Weiß mochte ich nicht, unabhängig davon, wessen Fan ich war. Im Grunde war ich niemandes Fan.

Dasselbe Farbempfinden wandte ich beim Aufhängen der Wäsche an. Mutter musste mir jedes Mal Zeit lassen, ihre Arbeit neu zu ordnen. Bei einer Störung der Proportionen oder Farbkombinationen hätte ich mich vor dem Einschlafen aus dem Bett stehlen und auf den Dachboden schleichen müssen, um mein körperliches und seelisches Unbehagen zu beseitigen. Natürlich war mir klar, dass die Wäsche ohne Rücksicht auf die Farbe der Klammern trocknete – rein physikalisch. Aber meine Ausgeglichenheit schien von der richtigen Anwendung der Plastikklammern abzuhängen. Dabei spielte es keine Rolle, was die Nachbarn denken mochten, die den Trockenboden ebenfalls benutzten. Ich stand vielmehr unter dem Diktat unsichtbarer Augen, die immer ALLES sahen und beurteilten.

Später, wenn mich beispielsweise die Frage beschäftigte, warum ich mich zu Gemälden von Asger Jorn stärker hingezogen fühlte als zu so vielen anderen Abstrakten, kam ich immer wieder auf undefinierbare ästhetische Gesetze zurück. Eine dem Kunstwerk – mit offenbar anderen Organen als nur mit den Augen wahrnehmbare – innewohnende Spannung. Es mag nicht überraschen, dass ich bei meinen Erklärungsversuchen zu den Ursprüngen kreativer Energie irgendwann bei den allerersten Felszeichnungen der Menschheit landete. In einem Online-Lexikonartikel zur Höhlenmalerei lese ich unter anderem die Deutung von Kunstwerken als „Mittler zwischen der hiesigen und der jenseitigen Welt“. [Wikipedia, Artikel „Höhlenmalerei“]

Hätte ich unter diesem Aspekt nicht andere Arbeitsmaterialien auswählen können als das sich ständig verändernde Arrangement farbiger Wäscheklammern? Wer weiß schon, was die Jenseitigen anspricht.