Wolfgang Cziesla: DER FIRWITZ – 5. Teilabriss
Zaunwinde und Geiß
Vier Bücher durfte man gleichzeitig ausleihen. Das reichte bei Mutter für eine Woche. Wir hatten unseren festen Wochentag, an dem sie mich mitnahm in die Stadtteilbibliothek. Ich lernte lesen.
Mit sechs bekam ich meinen eigenen Büchereiausweis. „Kind“ ist mit blauer Tinte als Beruf eingetragen. Ich besitze ihn noch, den Ausweis aus grauem Karton, mit der Tasche für die Buchlaufkarten. Vorausgegangen war da schon eine Reihe wöchentlicher Büchereibesuche.
Wohin mit mir, während Mutter die Regale vorhandener Belletristik durchforstete? Die ausländische Literatur, an der nach dem Krieg ein großes Nachholbedürfnis herrschte. Die Regale mit den Klassikern, vor denen Mutter immer allein stand. Die Künstler- und Politikerbiographien, Memoiren, historische Romane. Bücher, die sie anlas, zurückstellte oder zum wiederholten Male auslieh.
Für Kinder meines Alters gab es vornan eine quadratische Holzkiste, durch zwei sich kreuzende Bretter in vier Fächer unterteilt. Wenn kein anderes Kind die Bücher durcheinander gebracht hatte, waren sie sortiert von Bilderbüchern, die ganz ohne Wörter auskamen, bis hin zu Büchern mit immer mehr Text und immer kleineren Bildern.
Den nachhaltigsten Eindruck hinterließ bei mir Die vorwitzige Zaunwinde. „Vorwitzig“ dürfte das erste fremde Wort gewesen sein, das ich mir lesend – buchstabierend noch – selbst erschlossen habe. Es war nicht wie „Straße“ oder „Ampel“ oder „Fußball“ im alltäglichen Gebrauch. Die Geschichte in dem Buch machte klar, was „vorwitzig“ bedeutete.
Zum beginnenden Frühjahr hat eine einzelne Zaunwinde es besonders eilig zu wachsen. Und weil sie in ihrer beachtlichen Höhe bald konkurrenzlos dasteht, wird sie als erste von der Ziege entdeckt und gefressen.
Die erste größere Leseanstrengung meines Lebens bescherte mir diese Moral. Kaum hatte ich verstanden, was da erzählt wurde, setzte meine Empörung ein. Und Trauer. Mein Beruf als Kind bestand darin zu wachsen. Wer seinen Job besonders gut machte, sollte dafür bestraft werden? Vielleicht liegt in dem frühen Warnschuss der Grund, warum ich es nicht über 1,68 Meter gebracht habe.
Meine Trauer über der quadratischen Holzkiste, während Mutter sorgfältig ihr Lesefutter für die Woche wählte, erschöpfte sich jedoch nicht in Selbstmitleid, sondern war meine vielleicht erste Empfindung von Solidarität. Ich litt mit der Zaunwinde.
Es wäre allerdings nicht nur übertrieben, es wäre eine Lüge zu behaupten, die von der Geiß ermordete und gefressene Zaunwinde habe meine Kindheit geprägt. Lange Zeit hatte ich das vermeintliche Kinderbuch vollständig vergessen.
In den Jahren 1977 bis 1983 – da war ich zwischen zweiundzwanzig und achtundzwanzig Jahre alt – experimentierte ich mit Substanzen, die geeignet sind, der Erinnerung auf die Sprünge zu helfen. Und glauben Sie nicht, es sei alles Trug und Wahn und Selbsttäuschung, was ein Mensch in diesen besonderen Zuständen erlebt. Das Mittel, dem ich viel verdanke, ist dasselbe, das auch in der Psychoanalyse eingesetzt wurde, um Kindheitstraumata ins Bewusstsein zurückzuholen. Das war aber nicht mein Ansatz und nicht meine Absicht. Ich war nicht therapiebedürftig und stand der Psychoanalyse zeitlebens misstrauisch bis feindlich gegenüber. Dennoch fiel mir in einer meiner einsamen Sessions die Zaunwinde ein. Vielleicht suchte der Stoff die Verwandtschaft. Bestimmte Prunkwinden, wie die Ipomoea tricolor, enthalten ein Mutterkornalkaloid, das LSA. Das wirft nachträglich ein neues Licht auf das Kinderbuch in der öffentlichen Bücherei. Welch augenzwinkerndes Verständnis hatte einen englischen Verlagslektor bewogen, meinen kleinen Band über halluzinogene Pflanzen in die Reihe „A Golden Guide“ aufzunehmen? Die Zaunwinde meiner Kindheit geriet plötzlich in eine Rubrik mit der Frucht vom Baum der Erkenntnis – „si folget ir bosen furwitz und tët dar in einen biz“, heißt es in der Milstätter Genesis über Eva, die in den Apfel beißt. Die Vertreibung aus dem Paradies als Strafe für die unerlaubten Mittel, zu der Erkenntnis zu gelangen, die nur einem Gott vorbehalten war. Auch die Historia von D. Johann Fausten, dem weitbeschreyten Zauberer und Schwarzkünstler, war vorgeblich „allen hochtragenden, fürwitzigen und gottlosen Menschen zum schrecklichen Beispiel“ aufgeschrieben. Der bestrafte Vorwitz hatte, wie sich mir immer mehr erschloss, eine zeit- und weltumspannende Tradition.
Was aber das Kinderbuch aussparte, war eine Auskunft, wie es der Ziege nach dem Genuss der Zaunwinde ergangen ist. Sie hatte den Fürwitz gefressen, wie ich.
Nochmals viele Jahre später eröffnet die neue Kommunikationstechnologie weitere Zusammenhänge. In diesem Fall war es ein Band mit Sagen aus dem Allgäu von 1914, den ich auch ohne das Internet hätte finden können. Doch hingen meine Entdeckungen bis vor einiger Zeit noch stärker vom Zufall ab – soweit die Wörter „Vorwitz“, „vorwitzig“, Fürwitz“, fürwitzig“ usw. nicht im Titel der Veröffentlichung auftauchten. In den Allgäuer Sagen ist unter der Kapitelüberschrift „Geisternde Hirten“ von einem polternden, keine Ruhe findenden Geist die Rede. Zu Lebzeiten hatte er als Viehhirte seinen Spaß gehabt, als eine Kuh, sich mehrfach überschlagend, einen steilen Abhang hinunterbockte. Nach seinem Tod muss er die Kuh wie Sisyphos den Stein unermüdlich den Berg hinaufschleppen, von wo sie jedes Mal wieder hinabkollert. Sein abwechselndes Stöhnen und Lachen verfolgt die Bewohner der Gegend. Sie rufen einen Geistlichen zu Hilfe, der den spukenden Geist bändigen soll. In dieser Prozedur verlangt der Geist, bevor er sich mit seiner Verbannung auf eine schroffe Bergspitze abfinden will, nach dem „Fürwitz“. Da niemand weiß, wer oder was mit dem „Fürwitz“ gemeint ist, überlässt man dem unfriedlichen Toten eine Ziege, die er sogleich in Fetzen zerreißt.
[veröffentlicht in: Sinn und Form 2013, Erstes Heft]
[Das Buchcover und das Inhaltsverzeichnis des wiedergefundenen Kinderbuchs zeigt die folgende PDF-Datei:]