Wolfgang Cziesla: DER FIRWITZ – 189. Teilabriss
Budapest 24.04.2005
Nationalstolz und Relativismus
Vor einigen Jahren war der deutsche Bundespräsident böse angeeckt, als er den Satz „Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein“ mit den Worten kommentierte, Stolzsein habe etwas mit Leistung zu tun, während die deutsche Nationalität in den meisten Fällen kein Verdienst sei.
Er sprach mir aus der Seele, denn ich beobachtete den nach 1989 erstarkenden Nationalstolz mit großer Sorge. Stolz auf ihre deutsche Nationalität konnten meiner Ansicht nach vor allem Zugewanderte sein, die sich ihre deutsche Staatsbürgerschaft durch mühsames Erlernen der Sprache, durch langes Wohnen in Deutschland und umständliche Rechtsverfahren erkämpft hatten. Aber auch den in Deutschland Eingeheirateten wollte ich ihr Recht auf einen gewissen Stolz angesichts ihrer glücklichen Hand bei der Partnerwahl nicht absprechen. Bei den Deutschen von Geburt dagegen gab es allenfalls mit fortschreitendem Alter Grund zum Gratulieren, dass sie es so lange in Deutschland ausgehalten haben. Ich selbst gehöre nicht zu der Gruppe, die in dieser Hinsicht Anerkennung verdient. Ich bin wiederholt und ausdauernd vor der deutschen Mentalität geflüchtet. Dabei kommt es mir nicht darauf an, die einzelnen Länder vergleichend gegeneinander auszuspielen. In keinem Land, das ich näher kennen lernte, hätte ich den Rest meiner Erdentage verbringen mögen. Ich sehe in der Relativierung der Kulturen und Lebensformen, die ein Landeswechsel mit sich bringt, den hauptsächlichen Erfolg meines Nomadentums. Viele Menschen – besonders in Deutschland – streben nach Sicherheit und suchen beständige Werte. Ich schreibe diese Aufzeichnungen, kurz nachdem ich Teile der Live-Übertragung der Inauguration von Papst Benedikt XVI im Fernsehen gesehen habe. Petersplatz und Straßen Roms gedrängt voller Menschen, großenteils Jugendliche. In die Kamera der ARD sagte eine 20-jährige Hamburgerin, die zurzeit ein Au-pair-Jahr in Rom verbringt, den Satz: „Ich bin stolz, dass der Papst ein Deutscher ist“. Eine Frau, in die ich mich unter anderen Umständen hätte verlieben können.
Ich hörte den Papst in seiner Ansprache eine Weile zu und versuchte zu verstehen, worin die Faszination für die jungen Leute bestehen könnte. Erklärbar wird das Phänomen nur durch die Zeit der Verunsicherung und Sehnsucht nach Führung. Die politische Kaste hat ihre Glaubwürdigkeit verloren. Bestand politisches Engagement einmal in dem Wunsch, Überzeugungen gesellschaftlich umzusetzen, so haben sich die Aktivitäten in Machterhalt und in die Bereitschaft verkehrt, den Ergebnissen demoskopischer Umfragen bis zur Selbstaufgabe zu folgen. Der gegenwärtige Erfolg der Erzkonservativen liegt bereits in ihrer Unirritierbarkeit. Die Werte sind zweitrangig, wenngleich die Botschaften (Liebe ist stärker als Gewalt. Du bist nicht allein …) wunderbar in die Gegenwart passen. Der Auftritt vor den Massen ohne spürbares Lampenfieber, ohne dass die Stimme versagt hätte, der gleichermaßen bescheiden wie megalomanisch vorgetragene Anspruch, nicht von 115 Kardinälen, sondern durch den Heiligen Geist von der höchsten Himmelsmacht selbst erwählt worden zu sein, und – was sich kein Popstar je getraut hätte – unschuldig und zugleich absolut selbstsicher von der Fangemeinde zu fordern, für ihn zu beten, damit er seine Sache gut mache – das alles nötigt ihm Respekt als Künstler und Führungskraft ab. Der Rest, die Erklärung der Zeremonie, war saubere Bibelexegese, solides Handwerk.
Für diesen Papst gehört Relativismus zu den großen Gefahren für die Menschheit. Gäbe es wie im Mittelalter einen neuen Lasterkatalog – der Relativismus gehörte zu den Todsünden unserer Tage. Ich wollte stets die Relativität der Werte erfahren, die Grenzen ihrer Gültigkeit erkunden. Weniger das Leiden an Deutschland als der Wunsch, das Sichergeglaubte in Frage zu stellen, war es, der mich in die Welt hinaustrieb. Die Vermutung, dass das lebenslange Sicheinrichten an ein und demselben Ort – ganz gleich in welchem Land – eine Einengung bedeutet. Die Erfahrung, dass auch ohne deutsche Tugenden wie Perfektionismus und ohne das in Deutschland besonders ausgeprägte Sicherheitsstreben ein lebenswertes Leben möglich ist, wollte ich in ständiger Improvisation und unter erhöhtem Todesrisiko in Brasilien machen. Einige in der Grundschule gelernte Regeln der Geophysik (z.B., dass mittags die Sonne im Süden steht, oder wie die Sichel des zunehmenden und des abnehmenden Mondes aussieht) wollte ich auf der Südhalbkugel auf ihre räumlich begrenzte Gültigkeit zurückgeführt sehen. Für alles, was hilfreich war, meine Identität und die mich umgebenden gesellschaftlichen Werte in Frage zu stellen, war ich dankbar. Dieses Verlangen prägte meine Auswahl an Literatur, meinen Gebrauch von Drogen wie LSD und nicht zuletzt meine Reisen und wechselnden Aufenthaltsorte. Nationalstolz begegnete mir in allen anderen Ländern, in denen ich lebte, viel ausgeprägter als in dem Deutschland, das mich in den 60er- und frühen 70er-Jahren geprägt hat. Ich habe das nie als einen Mangel empfunden, sondern im Gegenteil als die Chance, das bei uns schuldigen Kriegsverlierern gründlich zerstörte Nationalbewusstsein könne die Basis eines internationalen, kosmospolitischen Selbstverständnisses sein. Für mich war die Zeit der Nationalstaaten das 19. Jahrhundert, das spätestens mit dem Kahlschlag von 1945 an sein historisches Ende gekommen war.
Stolz, Deutscher zu sein, deutsche Flaggen auf Fußballplätzen, das Mitsingen der Nationalhymne und zuletzt der Stolz, dass der Weltkirche ein Papst deutschen Ursprungs vorsteht – die Sorge könnte allenfalls durch den Satz gemildert werden, den die junge Hamburgerin im ARD-Kurzinterview gleich hinterherschickte: Sie hoffe, dass sich während der Papstschaft von Ratzinger auch der Dialog mit Ländern in Südamerika und Afrika verbessern werde. Wenn der Dialog zur Relativierung und nicht erneut zur Missionierung führt, kann ich die Hoffnung der jungen Frau gutheißen.
Nachtrag beim Abtippen am 15.05.05 in Schöppingen:
Wenn es für meine Generation – zumindest für den kleinen Teil, der damals einzig für mich zählte, die Speerspitze des Progressiven – eine gemeinsame Arbeitshypothese zu geben schien, so ließe sie sich vielleicht am besten in dem Satz zusammenfassen: „Was besteht, ist veraltet.“ Das war die Basis, von der aus wir das Leben neu erfinden wollten, und unsere endlosen Debatten führten zur Demontage alles Sichergeglaubten. Der Auftritt des Papstes führt mir nun vor meine geschockten Augen: Das Veraltete besteht – und es wird wohl noch eine ganze Weile bestehen.
Ich weiß nicht, was schlimmer ist: Der Gedanke, die junge Frau, die sich gleichermaßen affirmativ zum Deutsch- wie zum Papsttum bekannte, hätte meine Tochter sein können. Oder die Vorstellung, ihresgleichen könnte demnächst die Mutter meiner Tochter werden.