188 – Budapester Tagebuchnotizen, April 2005

Wolfgang Cziesla: DER FIRWITZ – 188. Teilabriss

Budapester Tagebuchnotizen, April 2005:

 

Warum ich weder den Papst noch einen Guru benötige

Ich habe zwei große Verbündete. Sie sind zugleich auch meine Feinde, wie alle Verbündeten. Sie werden mich verschlingen. Aber so lange ich sie auf meine Seite bringe, kann mir nichts passieren. Nicht das Geringste. Es handelt sich um das Universum und um den Tod. Das mag sich größenwahnsinnig anhören. Ich behaupte auch gar nicht, dass die beiden allein meine Verbündeten sind. Aber solange man das Universum und den Tod auf seiner Seite weiß, ist man unangreifbar. Jeder kann das. Das Wichtigste ist, zwei Selbstverständlichkeiten niemals aus den Augen zu verlieren. Eine, die uns räumlich, und eine, die uns zeitlich zurechtweist. Es ist nichts Neues, man darf es nur keinen Tag vergessen: Wir leben auf einem winzigen Planeten in einem kleinen Sonnensystem an einer unscheinbaren Stelle einer Galaxis, die nur eine von sehr vielen in einem großen Universum ist, von dem niemand weiß, ob es das einzige ist. Die Dauer unseres Planeten ist nichts im Vergleich zum Ursprung unseres Universums; die Existenz der Menschheit ist nur der allerkleinste Teil der Existenz von Leben auf diesem Planeten, und das Leben eines einzelnen Menschen ist kurz angesichts der Existenz der Menschheit. Jeder Lebende kann jeden Tag sterben, durch einen Herzinfarkt, Unfall oder sonst wie. Das gibt mir meine Sicherheit, die Bescheidenheit und Überheblichkeit zugleich ist. Der mächtigste Herrscher wird nicht vom Tod verschont, und der Reichste kann seine Güter nicht mit ins Grab nehmen. So weit, so bekannt.

Wieso aber sind Universum und Tod mein Verbündeten? Der Tod ist der große Wertgeber. Er gibt uns Liebe, Wünsche, Wichtigkeit und überhaupt alles. Stellen wir uns vor, es gäbe keinen Tod – und konsequent weiter gedacht: keine Krankheiten, die langsam oder schnell zum Tod führen, keine gefährlichen Unfälle … Welches Elternpaar würde sich um seine Kinder sorgen, wenn es wüsste, den Kindern kann nichts Schlimmes passieren und sie werden ewig leben? Vom ersten Mal, dass ich erlebt habe, wie einer meiner Jugendfreunde den Tod seiner Mutter betrauern musste, habe ich seine Worte deutlich in Erinnerung: Wenn ich gewusst hätte, dass es so schnell geht, hätte ich mich mehr um sie gekümmert, weniger mit ihr gestritten, ihr mehr zugehört.

Wird also die Liebe nicht erst durch das Wissen um die Endlichkeit geboren? Warum sollte ich in Deutschland leben, im Hause meiner Eltern, wenn ich die Gewissheit hätte, ihr Leben ginge noch Jahrzehnte, Jahrhunderte, Jahrtausende bei gleichbleibender Gesundheit weiter? Und wie käme der Wunsch zustande, die Welt kennen lernen zu wollen, wäre da nicht der Zeitdruck angesichts der wenigen Jahre, die mir zur Verfügung stehen? Der Tod gibt den Dingen ihre Wichtigkeit, ihre Dringlichkeit, und ist der Grund, sich morgens aus dem Bett zu erheben. Der Tod ist der Aufwerter der sonst bedeutungslosen Materie, der Stachel unserer Liebe. Wir brauchen in wie einen guten Freund.

Und das Universum? Das benötigen wir, um die Wichtigkeit zu relativieren, die der Tod den Dingen gibt. Sonnen und ganze Galaxien sterben.

Auch das nichts Neues. Aber die tägliche, stündliche Erinnerung dieser beiden Selbst­ver­ständ­lichkeiten – unserer Kleinheit im Kosmos und unserer Kurzlebigkeit – hilft uns im Umgang mit denen, die sich aufspielen und in ihrer Wichtigkeit sonnen.

Mit Fünfzehn las ich in Hermann Hesses „Siddharta“ den Satz, von jeder Wahrheit sei ihr Gegenteil ebenso wahr. Mehr bedarf ich nicht, um alle Gewissheiten für immer zu zerstören und die Nase über alle Sterblichen zu rümpfen, die mir Gewissheit anbieten wollen. Ich bin gegen Lehren immun. Schwache Menschen, die Ungewissheit nicht ertragen. Der Agnostizismus, für den ich eine ebenso große Schwäche hege wie für den Relativismus, gehört gleichfalls in den päpstlichen Katalog der Feinde des Christentums.

 

Die neuen Fans von Papa Ratzi

Schwache Menschen, die einen anderen Schwachen suchen. Einen Menschen, der wie sie die Ungewissheit, das Relative nicht erträgt und im Glauben die Gewissheit sucht, die er in der Welt nicht findet.

Der Papst ist schließlich nicht die vielen Wörter wert, und auch nicht sein Glaube, oder gar die katholische Kirche, dieser Anachronismus, sondern die Tatsache, dass sich um Papa Ratzi weltweit eine junge Fangemeinde gruppiert, die plötzlich wieder nach Werten sucht, die ich für endgültig vernichtet hielt.

Die Zwanzigjährige im ARD-Kurzinterview – wenn das meine Tochter wäre, ich würde sie zur Rede stellen, ob wir, die wir uns in der Nachfolge von 1968 so viel Mühe gegeben haben, alle Werte zu hinterfragen, zu relativieren und zu vernichten, es verdient hätten, dass unsere gründliche Wertevernichtung von der nachkommenden Generation nun mit Füßen getreten wird. Sie soll zu mir kommen. In meinem Relativismus bin ich päpstlicher als der Papst.

Aber was die Sache schlimmer macht: Sie kann nicht meine Tochter sein, da ich noch gar keine Frau gefunden habe und eine Frau, um mit ihr eine Tochter zu zeugen, zuletzt in der Generation der Frauen zu finden hoffte, die meine Töchter sein könnten. Nach wessen Werten oder nach wessen Werterelativismus sollten wir unsere Kinder erziehen?

 

Gott, ich, der König von Swaziland und ein Scheich

Der Christengott kann mein Vorbild nicht sein. Ebenso wenig wie ich hat er es verstanden, eine Frau zu finden. Dabei hatte er wegen seiner Allmacht die besten Voraussetzungen. Um seinen Sohn zur Welt zu bringen, benötigte er eine Leihmutter, wovon Josef zunächst gar nicht begeistert war.

Wäre ich allmächtig, ich hätte Frauen ohne Zahl und Kinder so viele kommen wollen. Da wähle ich mir eher den König von Swaziland zum Vorbild. Der hat fünfhundert Kinder von zweihundert verschiedenen Frauen (oder etwas in dieser Größenordnung), und wer weiß, wie viele Versuche zu keinem Nachwuchs geführt haben! Er hat jedenfalls den in der männlichen DNS angelegten Auftrag zur Fortpflanzung gut erfüllt. Ob seine Frauen alle meinem Geschmack entsprochen hätten? Vielleicht wäre ein Ölscheich oder der Sohn eines arabischen Gewaltherrschers, der sich zu seinem Vergnügen für viele Millionen Dollar die schönsten Supermodels aus allen Teilen der Welt einfliegen lassen konnte, doch näher an der Allmacht – zumindest an dem für mich interessantesten Aspekt von Macht.

 

Nachtrag

Beim Nachdenken über die Wirkung des Papstes auf die Jugend – heute am Tag seiner Inauguration, die in alle Länder der Welt übertragen wurde – will ich die gute Wirkung der Wolldecken nicht vergessen, die in Budapest an die Gäste der Straßenrestaurants am Franz-Liszt-Platz verteilt werden und dadurch das Schreiben dieser Notizen überhaupt erst ermöglichen.