190 – Das Tempo der Zeit

Wolfgang Cziesla: DER FIRWITZ – 190. Teilabriss

Das Tempo der Zeit

In großer Zahl sind uns aus allen Epochen Feststellungen überliefert, die Zeit liefe gegen Ende eines Lebens mit zunehmender Beschleunigung ab. Was, wenn alle diese Menschen mit ihrer Beobachtung Recht hätten? Und zwar, nicht nur in ihrem subjektiven Empfinden, sondern tatsächlich? Möglicherweise ist unsere Zeitmessung, die sich an relativ verlässlichen Größen wie dem Sonnenjahr, den Mondumläufen und den Erdumdrehungen orientiert, nichts als ein hilfloser Ersatz dafür, dass wir den wirklichen Ablauf der Zeit, den wir manchmal empfinden, nicht messen können. Und selbst unsere präzisesten Uhren, die sich am vermeintlich konstanten Verfall von Atomen orientieren, könnten von einer falschen Voraussetzung ausgehen, wenn eine zunehmende Verlangsamung in der atomaren Zersetzung die tatsächliche Beschleunigung der Zeit ausgliche.

Dabei legt schon ein Blick auf die Geschichte der Menschheit und die sich ständig verkürzenden Intervalle zwischen wichtigen Entwicklungsschritten die Vermutung nahe, die Zeit beschleunige sich objektiv – und zwar rapide. Möglicherweise beginnt die zeitliche Geschwindigkeitserhöhung nicht bei jedem Menschen neu, sondern ein in einem bestimmten Jahr Geborener steigt bereits mit dem schnelleren Tempo in die Geschichte ein, in dem ein anderer im selben Jahr das Leben verlässt. So wie bei einem anfahrenden Zug manche während der Fahrt aufspringen, während andere abgeworfen werden, und die Spätgeborenen müssen aus dem Sprung den rasenden Zug zu fassen bekommen.

Freilich taugt der Vergleich nur ein Stück weit, denn irgendwann hat ein Zug seine Höchstgeschwindigkeit erreicht (was selbst für eine noch stärker beschleunigende Rakete gelten würde). Ein Schlagzeuger könnte den Takt veranschaulichen, indem er zunächst nur alle paar Tage einmal auf die Trommel schlägt, dann täglich, mehrmals am Tag, stündlich, halbstündlich, minütlich usw. bis hin zu einem Wirbel, in dem kein einzelner Schlag mehr zu unterscheiden ist. Vielleicht verhält sich der tatsächlich Takt der Zeit wie ein Ball, der in immer kürzeren Abständen auf den Boden auftappt, bis er in einer Ruheposition zum Liegen kommt. Ist auch die sich beschleunigende Zeit kein anfahrender Zug, sondern ein zum Stillstand findender Gummiball? Und das nicht nur in unserem subjektiven Empfinden?