Wolfgang Cziesla: DER FIRWITZ – 210. Teilabriss
Schöne Natur
Unvergessen die Worte der 84-jährigen Ordensschwester im Nordosten Brasiliens. Ihr am Hang der Serra do Estevão gelegenes Kloster stellte Fremdenzimmer zur Verfügung. Von der Terrasse aus blickte man über das weite Tal von Quixadá mit bizarr geformten Monolithen. Die Nonne drückte ihre Dankbarkeit aus, jeden Tag von hier aus „auf Gottes schöne Erde“ blicken zu dürfen.
Mir, einem Agnostiker, der normalerweise nicht von Gott redet, müssen die Worte der Nonne wohl wieder eingefallen sein, als ich gestern meine Mutter im Rollstuhl durch die Gänge der geriatrischen Station schob. Ich drehte mit ihr eine zusätzliche Runde durch die Nachbarstation, wo großformatige Farbfotos vom Ruhrtal und dem im Abendlicht ruhenden Baldeneysee an den Wänden hängen. Zu meiner eigenen Überraschung leitete ich die kleine Exkursion ein: „Komm, Mutter, lass uns noch einen Blick auf Gottes schöne Erde werfen.“
Beim selben Besuch hatte Mutter zugestimmt, den Antrag auf ihre Heimunterbringung selbst zu unterschreiben, aber, den Stift in der Hand, brachte sie es nicht fertig.
Später war ich allein in der Wohnung, die Mutter, als sie vor etwa einem Monat mit dem Rettungswagen abtransportiert wurde, gewiss nicht mit dem Gedanken verlassen hatte, niemals wieder dorthin zurückzukehren. Zwei Tomaten auf der Arbeitsfläche der Küche verlieren die Form und ihre Flüssigkeit. Weiße Stellen bilden sich an den Schalen. Am Wochenende werde ich mich um die zurückgelassenen Lebensmittel kümmern müssen.
[25.10.2013]