Wolfgang Cziesla: DER FIRWITZ – 8. Teilabriss
Das Fürwitzelchen
Auf welche Weise sich das Fürwitzelchen zuerst bemerkbar machte, ist im Nachhinein schlecht festzustellen. Nichtssagend wäre eine Formulierung wie „Es war da, seit ich denken kann“. Denn erstens kann ich nicht nachhalten, seit wann das der Fall ist (und in letzter Zeit zweifle ich mich immer öfter, dass es auf diese Fähigkeit ankommt). Und zweitens kann es ja lange schon da gewesen sein, bevor ich es bemerkt habe. Oder ich hatte es bemerkt und wieder vergessen. Ein sehr deutlicher Eindruck seiner Präsenz wechselte mit Phasen ab, in denen das Fürwitzelchen fast vollständig in den Hintergrund trat. Für längere Zeit geriet es aus meinem Blickfeld. Wobei „Blickfeld“ ein schlechtes Wort ist. Gesehen im wörtlichen Sinn habe ich das Fürwitzelchen wohl nie. Zumindest wäre da keine äußere Gestalt, die ich beschreiben könnte. Und wenn das Wort „Blickfeld“ für meine Wahrnehmung dennoch eine Berechtigung hat, dann tauchte das Fürwitzelchen am ehesten als eine Art Schemen im Augenwinkel auf. Meist hinten rechts.
Ganz unlieb wären mir Etikettierungen wie „Dämon“, „Kobold“, „Geist“, „Phantom“ usw. Sie tragen nicht nur nichts zur Klärung bei, sie werfen auch ein schräges Licht auf mich. Ich bin kein Esoteriker. Kein Mystiker. Und überhaupt nichts anzufangen weiß ich mit der Welt der Fantasy-Romane. Ob ich verrückt bin? Das muss sich zeigen.
Es geht nicht um Begriffe. Manchmal war ich geneigt, das Fürwitzelchen als ein Prinzip zu bezeichnen. Allerdings eines mit Körper. Wenn ich gesagt habe, dass da keine äußere Gestalt auftauchte, die ich beschreiben könnte, so bin ich mir andererseits der stofflichen Verdichtung ganz sicher. Es war da, im Raum, sprach zu mir, wenn auch nicht mit Worten. Oder doch. Ich glaube nicht, dass ich das, was es mir mitteilte, über meine Ohren wahrgenommen habe.
Gleichwohl spielte sich die Verständigung keineswegs in einem akustischen Vakuum ab. Ich mochte etwas anderes gehört haben, den Schrei eines Vogels, der draußen vorbeiflog oder – seltsam genug – auf der Fensterbank landete. Das Aufheulen eines angefahrenen Hundes. Das Kreischen einer elektrischen Säge (von wo?). Die Spitze einer Bohrmaschine, die von nebenan in meine Wohnung hineinzustoßen trachtete. Was immer es war – in der Anwesenheit des Fürwitzelchens (und durch seinen Einfluss?) übersetzte ich den Laut in ein mir unbekanntes Wort, wusste aber zugleich, in welchem Wörterbuch ich es finden würde.
Wenn Sie glauben, ich liebte es, mich rätselhaft auszudrücken, so kann ich versichern: Das Gegenteil ist der Fall. Mit Ihrer Hilfe bin ich um eine möglichst präzise Beschreibung bemüht. Wenn es allerdings um das Wort geht, dem ich auf seinen Zuruf (und ich betone, dass ich die Stimme nicht im eigentlichen – akustischen – Sinne wahrnahm) als erstes nachspürte, muss ich mich ausschweigen. Ja, ich muss. Völlig gegen mein aufgeschlossenes Naturell. Das Schweigen darüber war eine in der Mitteilung enthaltene Bedingung. Ebenso, wie mir die Fundstelle im Wörterbuch in dem Bruchteil einer Sekunde mitgeliefert wurde – ich weiß nicht, über welche Kanäle sich der Informationstransfer abspielte. Der damit verbundene Auftrag wurde mir sogleich klar. Die Lösung. Die Devise. Kurz: die Antwort auf eine Frage, die gestellt zu haben ich mir nicht bewusst war.
Wie aber lässt sich mein gesamtes Verhalten der letzten Monate (vielleicht Jahre) erklären, wenn nicht als eine unausgesprochene Frage? Wieso begab ich mich in eine Lage, in der mit dem Auftauchen von so etwas wie dem Fürwitzelchen gerechnet werden konnte?
Falscher Ansatz. Nicht um mich geht es. Wenn das Fürwitzelchen mir etwas sagen wollte – und davon war ich auf der Stelle überzeugt –, dann spiele ich keine andere Rolle als die eines austauschbaren Werkzeugs. Oder darf ich mich als ein Auserwählter fühlen? Das Fürwitzelchen in meiner Nähe zu wissen, von ihm beobachtet, begleitet, geleitet zu werden oder es in mir gespürt zu haben, regt an, seinem Prinzip zu folgen. Wenn es ein Prinzip ist. Ich suche nicht nach einer Erklärung. Schon gar nicht hätte ich jemanden um nichts erklärende Beurteilungen wie „Besessenheit“, „fixe Idee“, „Realitätsverlust“ gebeten, und was ich mir sonst anhören musste. Nein, Leute! Das Fürwitzelchen taucht mit fast schon gewohnter – wenn auch keineswegs berechenbarer oder gar regelmäßiger – Selbstverständlichkeit auf. Das hat nichts Beängstigendes, hatte es auch beim ersten Mal nicht gehabt. Eher der Eindruck einer Geborgenheit im Verlorensein, der sich mit meiner Zustimmung – als ob ich eine Wahl hätte – unmittelbar einstellt.
Nun aber zur Sache. Zu den unendlich erscheinenden Möglichkeiten, die ich nutzen kann. Nutzen muss. Während die Zeit vergeht. Und der Preis dafür, mich hinauszustehlen aus den Abläufen. Stimmt das? Spielen sich die Verbrennungsprozesse in mir nicht noch hitziger ab? Trotzdem, die extreme Verzögerung in den äußeren Vorgängen, mein Lupenblick, die Vernichtung, erkauft durch welchen Gewinn? Ist es buchhalterisch gedacht, wenn ich Ausgeglichenheit voraussetze? Ein kosmisches Nullsummenspiel. Naiv. Nein. Ich werde zu etwas gebraucht. Lachhaft. Und kein bisschen komisch.
Politik. Nicht die kleinliche Tagespolitik, obwohl auch die von Liebenswertem durchschwappt ist. Das Weltgeschehen. Bin ich größenwahnsinnig? Nein, das ist es ja gerade, warum sich das Fürwitzelchen eingemischt hat. Sein Wesen ist das Sich-Einmischen. Den uns zugewiesenen (von wem?) Ort verlassen. Räumlich sowieso. Das Schwierige sind die nicht-geographischen Ortswechsel. Unentdeckte vorlaute Einwürfe. Springende Perspektiven. Nach oben ausbrechende Wellen. Aus Wiederholungen der plötzliche Durchstoß ins Nieerlebte. Es wäre falsch zu sagen, dass es dazu einer Ermutigung bedürfte. Was nun passiert, hat nichts mit Mut zu tun. Ein tragender Gleitflug, und selbst die Turbulenzen sind lustig. Das Hoppla-Gefühl noch im Sturz.
Wer kennt sich aus mit den Richtungen? Sympathische Versuche, sich zu orientieren. Im Emoplasma. Eine wohl in den Genen gespeicherte Rudimentärerinnerung an das Nichts. Ich gebe einem Impuls nach; das Objekt reagiert mit Gleichmut. Ich muss nicht ziehen, ich muss nicht drücken, es geht alles von selbst. Die Welt ist stimmig. Perfekt. Wo ist der Makel, es muss ihn geben. Etwas, wodurch sie sich verrät.
Über dem aufgeschlagenen Wörterbuch eine momentane Ewigkeit in Legasthenie verharrend. Das Ergründenwollen bricht eine Schneise durch die Starre. Ebenso könnte ich Kristalle vergleichen, ein Salz- und ein Zuckerkristall. Wie zeigt sich der unterschiedliche Geschmack in der Form? Ähnlich wie bei den Menschen? Ein größeres Betätigungsfeld.
Erotik. Nicht die grobfleischliche Variante. Die unsichtbaren Linien sichtbar machen, auf denen Reize wandern. Wandern? Strömen. Flitzen. Zerhackte Informationen, am Ziel zusammengesetzt? Ameisenstraßen im Zeitraffer, die Schwarmintelligenz der Dinge. Einen vorübergleitenden Eindruck lang erahne ich ihren Zeichenaustausch. Dann schweigen sie wieder, in atmender Ruhe.
Ästhetik. Eine distanzierte Vereinigung? Farben in spitzbübischer Kombinatorik. Mein Blick kann sie aus ihrer phlegmatischen Form fallen lassen. Es genügt eine Winzigkeit, und sie schwanken. Hauchdünne Dissonanzen zwischen den Tönen. Brüche in der Stimme. Eine unstimmige Resonanz des Klangkörpers. Des Körpers, auf den die Stimme angewiesen ist. Den sie sich in all den Jahren aufgezwungen hat. Einen anderen gibt es nicht. Der Körper, der uns verrät. Die Gestalt.
Warum „Fürwitzelchen“? Nimmst du meine Kompaktheit nicht ernst? Tödlich ernst?
Sorry! Witzelsucht, klinisch nachweisbar. Unheilbar.