034 – Autisten und Junggesellen

Wolfgang Cziesla: DER FIRWITZ – 34. Teilabriss

Autisten und Junggesellen (Fragment)

„Er brachte sich nicht mehr dazu, seinen Anspruch
zu beschränken, das Kunstwerk zu isolieren,
es aus dem großen Zusammenhang zu reißen,
in den er es gehörig wusste.“

Sigmund Freud,
Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci

 

In einem Fernsehbeitrag zur Kunst-Biennale 2013 in Venedig (die ich nicht besuchte) wurde ich auf Peter Fritz (1916–2008) aufmerksam, einen ehemaligen Versicherungsbeamten aus Wien, der über zwanzig Jahre hinweg am Feierabend mindestens 387 Modellhäuser aus verschiedenen Materialien herstellte. Nach seinem Tod hatte er Glück. Die Frage „Ist das Kunst oder kann das weg?“ hat ein Künstler und Ausstellungsmacher, der die Häuser in einem Antiquariat in Plastiksäcken verpackt entdeckte, zugunsten der Kunst beantwortet, zugegriffen, auf verschiedenen Ausstellungen präsentiert, und nun sind etwa 200 der Häuser auf der Biennale in Venedig zu sehen.

Es kann auch ungünstiger ausgehen. Die Erben von Armand Schulthess beispielsweise vernichteten 1973 den allergrößten Teil des einzigartigen Gesamtkunstwerks des im Jahr zuvor verstorbenen Künstlers.
Über meine Lieblingsautisten aus Kunst und Literatur beabsichtige ich demnächst einen Essay oder eine Reihe Kurzporträts zu schreiben.

„Autist“, im poetologischen, nicht im pathologischen Sinne, benutze ich zur Abgrenzung von anderen Künstler- und Schriftstellertypen wie den eitlen Selbstdarstellern, zudringlichen Missionaren, Lehrern, den Managern und Verkäufern ihres Werks, den Fließbandproduzenten, Gewerkschaftsführern der Literatur, Sozialarbeitern, seriösen Versicherern oder Wortclowns. Letztere wären eine mir relativ sympathische Kategorie, doch eigne ich mich selbst leider nur begrenzt für Clownerien.

Einige wären dabei, die bereits Harald Szeemann in seinen Katalog „Der Hang zum Gesamtkunstwerk“ aufgenommen hat oder unter die Konstrukteure von Junggesellenmaschinen einreiht. Andere große von ihren jeweiligen Autismusen Geküsste sind mir in anderen Zusammenhängen begegnet; wenn’s interessiert schreibe ich demnächst mehr dazu.

Das einsame Werkeln hat den Nachteil, relativ teuer und meistens nur schlecht vermarktbar zu sein. Außerdem zwingt der Markt den Werkschaffenden ja eine gewisse Kommunikationsbereitschaft auf

Gestern Abend zurück zu den Gesamtkunstwerken und Junggesellenmaschinen. Die Weltmaschine des Franz Gsellmann in einer Scheune in der östlichen Steiermark. Das Mausoleum des Briefträgers Ferdinand Cheval, der Wald des Armand Schulthess, der Merzbau, die Maschinen bei Raymond Roussel. Es sind solche Autisten (nicht im pathologischen Sinne und ohne verminderten IQ), die unbeeindruckt von positivem oder negativem Feedback über Jahre, Jahrzehnte unbeirrt und weitgehend unbemerkt ihr Werk schaffen, die mich faszinieren. Nicht die Personen im Blickpunkt der Öffentlichkeit, die Selbstinszenierer wie Richard Wagner usw. wenn einer meiner Arbeitskollegen mich in sein halbes Reihenhaus am Stadtrand einlüde, dort eine Klappe im Fußboden öffnete, mich hinuntersteigen ließ, und ich nach und nach entdeckte, er hat das halbe Stadtviertel unterhöhlt, zweihundert Räume, jeder anders gestaltet, anders möbliert, mit verschiedenen Musiken aus verborgenen Lautsprechern, bewohnt von verkleideten Schaufensterpuppen oder mumifizierten Leichen, ja, das wäre eine Entdeckung, die alle Ruhmsüchtigen aus den Feuilletons in den Schatten stellte.

Die Außenwelt rührt nicht ans Universum, das ich in mir trage.

[19.06.2013]