035 – Gabriele

Wolfgang Cziesla: DER FIRWITZ – 35. Teilabriss

Gabriele

Der Schulpflicht entwachsen, wollte ich auf Teufel komm raus etwas lernen und besuchte wahllos – so mochte es für Außenstehende scheinen, für mich aber meinen verschiedenen Neigungen entsprechende – Kurse an der städtische Volkshochschule: Soziologie, Astronomie, Psychologie, Visuelle Kommunikation bei einem überregional bekannten Fotografen, Filmanalyse, Kunstgeschichte, einen Theater-Workshop, zwei Semester Porträtzeichnen, im zweiten davon traute ich mich parallel ans Aktzeichnen.

Montags beim Porträtzeichnen gehörte zur Gruppe eine Schülerin vom Werdener Gymnasium, ein gutes Jahr jünger als ich. Bald fiel mir auf, dass sie das wiederkehrende Porträtmodell, einen Rentner, treffsicher und in jedem Fall wiedererkennbar mit dem Kohlestift auf den Zeichenblock zu bannen verstand. Manchmal gelang es mir, mich in der Pause kurz mit ihr zu unterhalten. Sie machte in einer Schultheatergruppe mit, wo sie „Die kahle Sängerin“ von Ionesco einübte, und wenn ich mich richtig erinnere, spielte sie die Hauptrolle. Wie sich das mit ihren langen blonden Haaren vereinbaren ließ, war mir damals schon rätselhaft.

Sie kannte auch den jungen Filmemacher Falk Lenhard. Später würde sie die Protagonistin in zweien seiner Spielfilme sein, im „Spätsommerfilm“ (1976) und in „Alles verlassen“ (1983); beides Schwarz-Weiß-Filme.

Zur Zeit unseres VHS-Kurses aber improvisierte die Gruppe um Falk Lenhard noch, im Sommer oft auf der Brehm-Halbinsel in der Ruhr vor dem Werdener Gymnasium.

Viel mehr erfuhr ich zunächst nicht von der Schülerin, die ich, solange ich ihren Namen nicht wusste, Monti nannte, weil ich sie immer montags traf.

In den Pausen stand sie gern abseits. Einmal bemerkte ich, dass sie ein bereits fertiges und gut gelungenes Porträt des Rentners weiterzeichnete, Teile des Kopfs wie die Haare und Ohren ins Phantastische verlängerte und in surreale Ornamente übergehen ließ. Als sie mich hinter sich entdeckte, zuckte sie zusammen und wurde verlegen.

„Toll“, sagte ich.

Während meiner Ausbildung war ich 1973 für drei Monate an den Städtischen Bühnen tätig, zwar nur in der Verwaltung, aber wir Verwaltungsheinis teilten uns immerhin mit dem künstlerischen Personal eine unterirdische Kantine, von der aus ein Gang unter der Straße das Vormietbüro, in dem ich arbeitete, mit dem Schauspielhaus verband. Ich hatte auch die Möglichkeit, Freikarten für die Aufführungen zu bekommen. Als „Glückliche Tage“ von Beckett gespielt wurde, überwand ich meine Schüchternheit und fragte „Monti“, ob sie das Stück mit mir sehen wolle, ich bekäme Freikarten.

Ihre Ablehnung war nicht unfreundlich, aber so definitiv, dass sie mir klarmachte, ich brauche ihr nie wieder ein vergleichbares Angebot zu machen. Sie sagte in etwa: „Nimm’s nicht persönlich! Aber ich glaube, dass alles, was wir wissen müssen, in uns vorhanden ist, und wir benötigen nichts, was von außen kommt.“

Ich nahm ihre Antwort widerspruchslos hin. Es klang ein bisschen nach Hermann Hesse, der mir als Achtzehnjährigem noch nicht ganz fern lag, nach dem geheimnisvollen Weg nach Innen, den Novalis beschreibt, und ich verstand auch, dass ich kein vielversprechender Filmemacher wie Falk Lenhard war, sondern ein künstlerisch nicht besonders talentierter Junge, der seine Ausbildung bei der Stadtverwaltung machte und nebenher zu zeichnen versuchte.

Ich traf Monti, alias Gabriele – irgendwann verriet sie mir ihren Namen – auch im Aktzeichenkurs und in einem Wochenendseminar zu Marcel Duchamp. Selbstverständlich hatte ich sie danach nicht vergessen. Ich sah die Premiere des „Spätsommerfilm“ und hoffte, sie dort zu treffen. Vom anwesenden Regisseur Falk Lenhard erfuhr ich, Gabriele sei inzwischen Meisterschülerin von Rudolf Hausner in Wien, und ich musste an ihr Porträt von dem Rentner denken, mit den grotesk verlängerten Gesichtsteilen. Es passte.

Ich besuchte auch die Premiere ihres zweiten Films, dem etwas depressiven „Alles verlassen“. Da ich erst sehr spät den Führerschein machte, war eine solche Vorführung in der „Filmbühne“ in Essen-Altenessen nichts, wo ich von Langenberg im Rheinland aus mal kurz hinfuhr, sondern ein Halbtagesausflug mit dem Fahrrad. Bei Regen radelte ich im Mai 1983 bangend einer möglichen Wiederbegegnung entgegen, zehn Jahre nach dem Porträtzeichenkurs an der VHS. Würde sich Gabriele an mich erinnern? Inzwischen hatte ich auf dem Zweiten Bildungsweg mein Abi gemacht und war schon einige Semester Student der Literaturwissenschaft, im Unterschied zu meiner Zeit als Verwaltungspraktikant nichts, wofür ich mich schämte. Aber Gabriele tauchte auch bei der Vorführung von „Alles verlassen“ nicht auf.

Viel später erfuhr ich über eine Freundin von Falk Lenhard, Gabriele habe kurz vor ihrem dreißigsten Geburtstag tatsächlich alles verlassen. Am 10. Juni 1986 setzte sie ihrem Leben ein Ende.

Im selben Gespräch war ich verblüfft zu hören, dass auch Falk Lenhard nicht mehr lebte. Ob es sich hierbei ebenfalls um ein selbstgewähltes Ende handelte oder um einen Unfall durch die Einnahme nicht miteinander harmonisierender Wirkstoffe, konnte auch Falk Lenhards Freundin, die ihn bewusstlos in seiner Wohnung gefunden hatte, nicht eindeutig sagen.

Mit den Möglichkeiten des Internet fand ich später mehr über Gabriele heraus und sah eine Reihe ihrer Gemälde. Das Online-Lexikon nennt 12.440 Seiten in 56 Tagebüchern, die sich allerdings, wie ich vom Forum für Nachlässe von Künstlerinnen und Künstlern in Hamburg erfahre, nicht dort, sondern im Familienbesitz befinden. Ich konnte auch einen Beitrag in einer Buchveröffentlichung googeln. Zwei Kunstwissenschaftlerinnen haben den Nachlass gesichtet. Die Überschrift ihres Artikels zitiert offenbar einen Satz aus Gabrieles Tagebüchern: „Ich bin mir meine eigene Zeitung.“

So etwas Ähnliches sagte sie doch 1973 auch zu mir.

[19.06.2013]