Wolfgang Cziesla: DER FIRWITZ – 76. Teilabriss
Ablehnung der Firwitz-Bühne
Mit vier Buchstaben, aus einem Firmennamen geschnitten und in eine Collage montiert, begann das, was sich nach und nach zu drei Merz-Bauten auswuchs – das in jedem Lebensabschnitt, jedem Exil, neu aufgegriffene und fortgeführte Lebenswerk –, die Vermerzung der Welt, die Gründung des Merzverlags, in dem die Zeitschrift MERZ erschien, und nicht zuletzt die Merzbühne. Im Oktober 1976 hatte ich das Vergnügen, Kurt Schwitters‘ „Zusammenstoß“ in der aufrüttelnden Inszenierung im Tübinger Zimmertheater zu erleben.
Schwitters’ Hinwendung zu Theater und Kabarett erzwingt von mir eine Antwort auf die Frage, muss sich auch der Firwitz, um ein vollständiges Gesamtkunstwerk zu werden, dem Theater zuwenden?
Das lebenslange Werkeln an einer sich ständig erweiternden Idee, die Gründung eines Verlags, die Einbeziehung verschiedenster Künste in ein Gesamtwerk, ist – bei allen Unterschieden zu Kurt Schwitters – unbestreitbar auch mir eigentümlich. Dennoch muss ich die Gründung einer Firwitz-Bühne ablehnen. Der Grund: Die Firwitz-Bühne ist die Welt.
Als Freund der Ununterscheidbarkeit von allem und jedem haben mich schon sehr früh solche Beispiele von Theater interessiert, die nicht ohne weiteres als Theaterspiel zu erkennen sind. Theater ohne eine dahinter stehende Institution, ohne ein eigens dafür geschaffenes Schauspielhaus. Ein Straßentheater wie das Living Theatre, von dem ich einige Akteure im Sommer 1976 auf einer Künstlerfete in einer Wiener Wohnung kennenlernte und das zuvor mit dem damals legendären Improvisation- und Interaktionsstück „Paradise Now“ tournierte, entwickelte Ansätze, die Nachahmer fanden. Doch war mir das alles immer noch viel zu sehr als Theater erkennbar. Schließlich wollten die Leute vom Living Theater ja auch Geld verdienen.
Auch der Clown in der Düsseldorfer Altstadt, der das Verhalten von Passanten und Straßencafébesuchern aufgreift, geht mir nicht weit genug. Wäre er nicht durch seine kugelrunde rote Plastiknase identifizierbar, er würde nicht das Lachen der Menge, er würde Klagen wegen Belästigung auf sich ziehen.
Man stelle sich vor, mitten auf der Fußgängerzone ziele jemand mit der Armbrust auf einen Apfel, der auf dem Kopf eines kleinen Jungen ruht, oder eine in schwarzem Satin gekleidete Dame, die behauptet, Königin von Schottland zu sein, würde in Ketten zu einem Scharfrichter geführt, der sie mit langer Axt erwartet. Wenn nicht die Passanten eingreifen, dann spätestens die früher oder später eintreffenden Ordnungskräfte. Die Gesellschaft verbannt solche Szenen in einen geschützten Raum, wo sie zwar als anerkannte Klassiker den Applaus des Publikums ernten, wo im Vergleich zur Fußgängerzone aber alles Erschreckende und Empörende abgetötet ist.
In „Kaffeetrinken in Cabutima“ habe ich in der Demo vor dem Gerichtsgebäude eine gespielte Aktion beschrieben, die, wenn auch vom Kontext eingegrenzt, in etwa meine Vorstellung vom nicht angekündigten Schauspiel veranschaulicht.
Bedeuten die Bretter die Welt, ist das Leben ein fortwährendes Theaterimitat. Als Sympathisant der – wenn nicht Gleichsetzung, so doch – verunsichernden Übergänge zwischen Leben und Theater spiele ich aus den verschiedensten Alltagssituationen heraus meine Rollen und verstehe meine Bürokleidung als Maske, so wie für den Clown Grock die übergroßen Schlabberschuhe, die weite Hose, das Ringelhemd und die rote Kugelnase über die Jahrzehnte hinweg seine Bühnenidentität bestimmten. Allerdings kann ich das Stück, das täglich im Büro und außerhalb aufgeführt wird, nur zu einem verschwindend geringen Teil mitbestimmen.
[15. September 2013]