095 – Großfürwitz und Klein-Fürbitz

Wolfgang Cziesla: DER FIRWITZ – 95. Teilabriss

Großfürwitz und Klein-Fürbitz

 

Kam der Eindringling aus Böhmen? Reichen meine Wurzeln, die sich im Trüben verlieren, in ein „Bohemian Life“?

„Fürwitz nebo Firwitz“ finde ich als Übersetzung eines Ortsnamens, der im tschechischen „Vrbice“ heißt. Ersterwähnung: 1367. Einwohnerzahl: 1.

Wie kann ich mir den einen Einwohner des Orts Fürwitz oder Firwitz vorstellen? Männlich, weiblich, jung, alt, alterslos? Überhaupt menschlich?

Wollte der, der sich bei mir gemeldet hat, einen Hinweis auf eine Zeit weit vor meiner Geburt geben? Eine Aufforderung zu einer Reise, einer Spurensuche?

Kirchenbuchverzeichnisse führen zum Stichwort „Fürwitz“ mal den Ort Lestkov, mal Dekau an. Für mich böhmische Dörfer.

Ich entdecke ein Großfürwitz im Kreis Karlovy Vary, und bei Waltsch ein Klein Fürwitz, das im Kirchenbuchverzeichnis auch als Micro Fürwitz und Klein-Fürbitz auftaucht. Im Unterschied zu nach und nach fünfzehn verschiedenen Orten namens Vrbice heißt Klein Fürwitz im tschechischen Vrbička.

Ich fliege sämtliche Orte namens Vrbice und Vrbička an, schwebe über den Häusern, versuche die Einwohner zu identifizieren. Großfürwitz und Klein Fürwitz, obwohl zu verschiedenen Gemeinden gehörend, liegen Luftlinie nur 5,1 Kilometer auseinander. Für den Landweg errechne ich 7,2 km. Das müsste ein Spaziergänger in 90 Minuten schaffen. Wer mag den Weg in der Vergangenheit regelmäßig gegangen sein? Ein Mann zu seiner Geliebten? Gab es Heiraten zwischen Groß- und Klein-Fürwitz? Gab es Mord und Totschlag? Dünkel seitens der Großfürwitzianer, Ressentiments der Klein-Fürbitzer?

Ich lese alles, was ich finde. Die Geschichte der einzelnen Vrbices. Die Gründer, die Herren, die Käufer, die Besetzer. Verwüstungen im Dreißigjährigen Krieg und Feuersbrünste. Namen wie Pottenstein und Waldstein, der mir in Prag auf Schritt und Tritt begegnete, Wenzel der Ältere, Nikolaus von Bubna, Kaiser Rudolf II., Fürst Kinsky. Die Einträge absuchend, als könnte mir in jedem Moment das entscheidende Stichwort begegnen und der unsichtbare Gast in meinem Zimmer eine Gestalt annehmen.

Ich verstehe kein Tschechisch. Vrbice ist mehrfach mit „Wrbitz“ eingedeutscht, mit den Varianten Wirbitz, Werbitz und Weidenbusch. Letztere will ich schon als eine zu vernachlässigende Übersetzung, die mich nicht weiterbringt, abtun, als ich mir die Frage stelle, warum es so viele Vrbice gibt.

In der tschechischen Wikipedia finde ich unter kyprej vrbice den Gewöhnlichen Blutweiderich, Lythrum salicaria, in eurasiatischen Feuchtgebieten häufig anzutreffen (englisch: willow herb). Vrba ist der Weidenbaum.

Eine zu triviale Erklärung? Nein, umso spannender wird es herauszufinden, was die Namengeber von Fürwitz und Firwitz, von Großfürwitz und Klein-Fürbitz, die doch sicherlich der jeweiligen lokalen Sprachvarietät mächtig waren, getrieben hat, sich nicht mit der bloßen Umschreibung in Wrbitz zufriedenzugeben, wenn sie ihr Dorf nicht Blutweiderich nennen wollten. Welcher Fürwitz oder Firwitz hat sie geritten? Und reitet einen von ihnen möglicherweise bis in meine Studierstube.