148 – QUALIA, oder: „Das muss man erlebt haben“

Wolfgang Cziesla: DER FIRWITZ – 148. Teilabriss [wenn überhaupt]

QUALIA, oder: „Das muss man erlebt haben“

Bei der Frage, wie sich Qualia ins Werk einbringen lassen, muss ich an eine Situation in der Literaturwerkstatt denken, die ich an der Volkshochschule Essen geleitet habe.

Eine neue Teilnehmerin las uns zum ersten Mal einen selbstgeschriebenen Text vor. Darin ging es um einen Zirkusartisten – Trapezkünstler oder Seiltänzer –, der abstürzte und, ich weiß nicht mehr genau, entweder auf der Stelle tot war oder zunächst gelähmt und später gestorben, oder er lebte noch, aber verkrüppelt. Während die Jungautorin las, verdrehte ich innerlich die Augen, denn so konnte man die Geschichte nicht erzählen. Den anderen Kursteilnehmenden schien es ähnlich zu gehen. Nachdem wir die Geschichte zu Ende gehört hatten, begannen alle nach einem Moment der Ratlosigkeit, den Text auseinanderzunehmen. Der Autorin kamen die Tränen. Man spürte, dass die Geschichte des Trapezkünstlers (oder Seiltänzers) sie sehr bewegte, aber der Text hatte bei uns nicht mehr Anteilnahme ausgelöst als eine Kurzmeldung in der Lokalzeitung: Zirkusartist abgestürzt. Bedauerlich, ja.

Während die erfahreneren Mitglieder der Literaturwerkstatt Ideen entwickelten, wie sich der Text verbessern ließe, sagte die Autorin immer wieder, „Aber so war es nicht“, und sprach über ihre Erlebnisse mit dem Akrobaten, der ihr Freund und Geliebter war. Wir sagten, was sie da erzähle, das müsse in den Text hinein, sonst verstehe man das nicht. Doch das war ihr zu intim, und sie begann uns unsere mangelnde Sensibilität vorzuwerfen.

Als sie den einzigartigen Humor des Verunglückten erwähnte, meinte ein Teilnehmer: „Von Humor habe ich in der Geschichte gar nichts bemerkt.“ Darauf sie: „Den kann man auch nicht beschreiben, den muss man erlebt haben.“

Sie benennt damit ein Problem, mit dem sich wohl die meisten Autoren herumschlagen: Wie einen Menschen, dem man im Leben begegnet ist, seine Besonderheit, seinen Humor, der oft ohne die Situation, die ihn hervorbrachte, so gar nicht komisch ist, wie das in gute Literatur verwandeln? Dafür gibt es exzellente Beispiele – bei Proust, bei Nabokov und vielen anderen. Mit viel Mühe und besonderem Talent ließe sich diesem Anspruch nahekommen. Nicht minder talentierte Autoren versuchen erst gar nicht, Erlebtes nachzubilden; sie erfinden sich ihre Figuren (Georg Klein wäre in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur dafür ein gutes Beispiel).

Im Erfinden bin ich nicht besonders phantasievoll. Das Festhalten von Erlebtem, auch das Andenken an Personen wachhalten, gehört zu meinen bevorzugten Schreibanlässen. Ein Satz wie „Das muss man erlebt haben“ kommt einer Kapitulation gleich. Und doch beschreibt er recht zutreffend, was die Qualia in meinem Werk sein könnten. Meine Skepsis der Vermittelbarkeit von Bewusstseinsinhalten und gelebtem Leben. Mein Leben muss man gelebt haben. (Problematisch wird es, wenn ich es selbst nicht gelebt habe.)

                                   [Notizbuch vom 24.08.2014, letzter Eintrag]