157 – Selbsterhaltung und Fortpflanzung, autobiographischer Text

Wolfgang Cziesla: DER FIRWITZ – 157. Teilabriss

Selbsterhaltung und Fortpflanzung

Eine koreanische Malerin, die ich im Künstlerdorf Schöppingen kennen lernte, fragte mich, was die Themen meines Schreibens seien. Ich antwortete: interkulturelle Themen, Fremderfahrungen, Missverständnisse in der Kommunikation. Aber einen Tag später war mir klar, dass ich ihr eine falsche Antwort gegeben habe.

Um die Frage neu zu beantworten: Ich bin Agnostiker, glaube an kein höheres Wesen, dass unsere Geschicke lenkt; mein Schreiben verfolgt keinerlei Mission; ich will weder agitieren noch belehren; ich bin Relativist, kenne so gut wie keine unumstößlichen Grundsätze, die ich nicht im nächsten Moment schon in Frage stellen könnte. Ich weiß nicht, ob die Geschichte der Menschheit auf ein Ziel zusteuert und ob unser Planet wichtig ist im Universum. Das Einzige, was ich mit ziemlicher Sicherheit behaupten kann, ist keine neue Erkenntnis: Wir Menschen (wie alle übrigen Lebewesen) haben gemeinhin den Hang, unser Leben erhalten und unsere Art fortpflanzen zu wollen. So sind wir programmiert. Selbsterhaltung und Fortpflanzung – wenn wir beides nicht ausdrücklich zu unserem Lebensinhalt erklären möchten – suchen sich ihre Schleichwege, um das in unseren Genen angelegte biologische Programm durchzusetzen.

Unter diesen beiden Begriffen kann auch mein Schreiben gesehen werden. In meinen bisher veröffentlichten vier Romanen – Visitatio, Anomalie, Die Austauschstudentin, Kaffeetrinken in Cabutima – gibt es jeweils eine dominante Frau, an der meine männlichen Protagonisten scheitern. Diese Frauenfiguren sind lebenden Vorbildern nachgezeichnet, die mir in verschiedenen Lebensabschnitten begegnet sind. Alle hatten folgendes gemein: Jede von ihnen habe ich mir als Mutter meiner Kinder vorstellen können, und alle vier wollten nicht mit mir ins Bett. Ihre Verweigerung hatte jeweils zur Folge, dass ich in jahrelanger Arbeit einen Roman schreiben musste. Da in allen Fällen der persönliche Kontakt zu den Frauen abgebrochen war, konnte ich sie nur auf öffentlichem Wege erreichen, und was ich ihnen zu erzählen hatte, füllte jeweils einen Roman. Vielleicht wollte ich die Frauen durch meinen selbstquälerischen und unerbetenen Minnedienst nachträglich davon überzeugen, dass es ein Fehler war, nicht mit mir zu schlafen; vielleicht wollte ich ihnen die Chance geben, ihre Haltung zu überdenken, und zumindest in einem Fall – im ersten – ist mir das gelungen (wenngleich unsere verspätete sexuelle Vereinigung keine Auswirkung auf die Nachwuchsfrage hatte). Führte aber der persuasive Charakter der Romane nicht zum gewünschten Erfolg, dann sollten sie zumindest den Zweck haben, der Menschheit an verschiedenen Beispielen ausführlich zu erklären, warum ich meiner biologischen Bestimmung noch nicht gerecht geworden bin.

Literarische und andere künstlerische Werke werden oft als Ersatz für Kinder gedeutet. Möglicherweise sind auch meine Bücher ein schlechter, unbefriedigender Ersatz. Eine Parallele zwischen Büchern und Kindern ist offenkundig. Beides beinhaltet die Hoffnung, etwas von der eigenen Existenz in anderer Form über den eigenen Tod hinaus zu retten. Damit ist der zweite Schlüsselbegriff angesprochen: die Selbsterhaltung. Selbsterhaltung erfährt ihre besondere Bedeutung durch ihre Negation – die auch in meiner Vergangenheit ausgeprägte Neigung, mein Leben aufs Spiel zu setzen. Von dieser Erfahrung handeln vor allem die Erzählungen aus der Sammlung „Über den Erdball“.