158 – Nachts auf dem Schöppinger Berg

Wolfgang Cziesla: DER FIRWITZ, 158. Teilabriss

[Dieser im Sommer 2005 entstandene Text existiert als Fragment von ca. 3 Seiten auf der Festplatte meines PCs; das Ende ist noch nicht ausgeführt; die Veröffentlichung an dieser Stelle erfolgt nach längerem Zaudern am 1. Mai 2019; W. Cz.]

NACHTS AUF DEM SCHÖPPINGER BERG

Ich habe ein Stück aus mir herausgerissen. Ein Tier flog mich an. Ein Brummer. Aber ich hörte nichts. Ein dickes lautloses Insekt oder eine Eichel, die aus einer Baumkrone herabfiel. Oder eine Buchecker oder ein herabfallender Zweig. Ein Schlag traf mich an der Schulter. Er hatte zugleich etwas Elektrisches, etwas Muskuläres. Als ob eine sich entladende Spannung sich mit einem Stechen unter meine Haut bohrte. Oder etwas geplatzt sei, eine Faser gerissen. Ich fasste mit der Hand an die Stelle auf meinem Hemd. Da war etwas dickes Rundes unter dem Stoff, als sei ein Tier unter meinen Kragen geflogen. Ich tastete mit den Fingern unter dem Hemd danach und hatte es schon in der Hand. Etwas Weiches, Kugelförmiges, Warmes, keine Frucht eines Baumes und kein Pflanzenteil. Ich hielt es zwischen Daumen und Zeigefinger und hatte augenblicklich den Verdacht, dass es eine Zecke war. Meine Angst vor Zecken war enorm. Sie konnten Hirnhautentzündung hervorrufen. Ich fürchtete sie mehr, als ich Würgeschlangen im brasilianischen Urwald gefürchtet hatte. Ich merkte, dass sich das Kügelchen von meiner Haut ablösen ließ. Die Zecke war wohl noch dabei, sich in das Gewebe meiner Schulter einzugraben. Sie klammerte sich bereits fest, aber noch hatte ich die Chance, sie daran zu hindern. Mit einer leichten Drehung riss ich sie heraus und hatte sie zwischen meinen Fingern. In der Dämmerung konnte ich nicht erkennen, was es war, und wollte es auch nicht. In der Angst, die Zecke könne sich in meinem Finger festbeißen, schleuderte ich sie in den Graben. Jetzt fiel mir ein, dass ich auf der Schulter seit dreißig Jahren einen Auswuchs hatte, eine etwa erbsengroße Ausstülpung über der Haut, weiß und vermutlich mit Eiter gefüllt, aber kein Pickel, der sich ausdrücken ließe. Ich bin kein Mediziner und weiß nicht, wie so etwas korrekt heißt – Warze, Furunkel, Abszess, Eitergeschwür? Ich liebe das Wort Schankerbeule, das ich irgendwo in Seefahrergeschichten früherer Jahrhunderte entdeckt haben muss. Aber eine Schankerbeule war die weiß glänzende Knospe auf meiner Schulter sicher nicht. Wenn ich mich gelegentlich beim Rasieren im Badezimmerspiegel betrachtete, habe ich schon manchmal überlegt, ob ich sie entfernen lassen sollte. Ein Freund hatte sich einmal eine Warze wegoperieren lassen, war deswegen ambulant im Krankenhaus und lief einige Tage mit einem großen Pflaster herum. Mir war der Aufwand zu hoch, ich konnte mit meiner Schankerbeule leben. Aber ließ sich solch eine Hautausbuchtung, für die Ärzte das Messer ansetzten, einfach so mit einer Bewegung aus der Haut herausreißen? Ich kam mir wie einer der Wunderheiler vor, dessen Hände durch die Bauchdecke eines Patienten fahren und dessen Organe herausnehmen konnten. Möglicherweise hatte die schwere Reistasche, die ich tagsüber am Schulterriemen getragen hatte, Vorarbeit geleistet, um jetzt die Eiterbeule mit einer kleinen elektrischen Entladung der Gewebefasern platzen zu lassen. Die Schwüle der Luft und meine Anstrengung beim Gehen bergauf mochten begünstigend hinzukommen – ein Schweißfilm lag auf meiner Haut. Mir kamen mir Zweifel, ob sich die kugelförmige Ausstülpung überhaupt auf dieser oder auf der anderen Schulter befunden hatte. Ich tastete beide Schultern und den Brustkorb unter meinem Hemd ab, konnte aber nichts entdecken. Es war ziemlich sicher die Stelle, die ich mir herausgerissen hatte. Während es mir wie ein Wunder erschien, dass ich einen – wenn auch kleinen – Teil meines Körpers, den ich seit mehr als dreißig Jahren mit mir herumgetragen hatte, mit einem Handgriff von mir abtrennen konnte, kamen mir Bedenken, ob das aus medizinischer Sicht gut war. Ich hatte vage in Erinnerung, dass man kanzeröse Geschwülste nicht aufstechen oder aufbrechen sollte, damit die Krebszellen nicht in die Blutbahn gerieten. Womöglich hatte ich soeben meinen Sterbeprozess eingeleitet. Meine medizinische Halbbildung führte zu abstrusen Phantasien. Die Vorstellungen, die sich ein Mensch über seine vermeintlichen Krankheiten macht, sind für einen Schreibenden allemal spannender als die Gewissheit von Gewebeproben im Labor.

Noch immer war ich mir nicht sicher, ob ich nicht vielleicht doch eine Zecke aus meiner Haut gerissen hatte, die soeben dabei war, ihr menengitis-erzeugendes Gift in meinem Körper abzuladen. Oder einen anderen Blutsauger. Ob man die Stelle desinfizieren müsse, das Gift aussaugen … Ich hatte es eilig, ins Helle zu kommen, an meinen Badezimmerspiegel, befand mich aber mitten im Wald. Ich war zu dem Spaziergang über den Schöppinger Berg aufgebrochen, weil ich herausfinden wollte, ob es einen Rundweg gab, ohne die Straße entlang laufen zu müssen. Beim vorigen Mal war ich auf dem Rückweg an der Einmündung eines Wanderwegs vorbeigekommen, hatte aber auf der anderen Seite des Waldes nicht entdecken können, wo der Weg begann. Diesmal ging ich den Weg in umgekehrter Richtung.

 

Am Waldrand entlang,

Sumpf

Hohes feuchtes Gras

Zecken

Kletten

Nasse Schuhe

Ufo, Traktor

Begegnung mit den Bewohnern des Künstlerdorfs, die mich vorbeihasten sehen, blutend, schmutzig, schweißüberströmt, als hätte ich im Wald einen Mord begangen.