172 – Depression

Wolfgang Cziesla: DER FIRWITZ – 172. Teilabriss

Depression

Von einem Nationaltorhüter namens Robert Enke erfuhr ich erstmals, als er sich das Leben genommen hatte. Ich muss ihm dankbar sein. Der Freitod eines Leistungssportlers lenkt viel stärker die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Volkskrankheit Depression, als wenn sich im Laufe eines Jahres zweihundert schwermütige Schriftsteller umbringen.

Eine Stelle aus meinem Roman „Sportreport“, erzählt aus der Perspektive des Sportreporters Arnold Schwedt, der vom freiberuflichen Kulturjournalisten Justin Stoyke zu einem Fußballspiel begleitet wird:

Als die Partie in der zweiten Halbzeit durchhing, kam Stoyke auf einen Kinofilm zu sprechen. Über eine Geisha. Dort gebe es eine Szene, in der sich die junge Geisha – noch in ihrer Ausbildung – im Publikum eines Sumo-Ringkampfes befinde. Sie bittet einen erfahrenen Herrn, ihr die Besonderheit dieses Sports zu erklären. Er antwortet: „Drei Dinge im Leben sind wichtig: Sumo, Business und Krieg. Wer das eine begriffen hat, kennt sie alle.“

Ich hatte den Film nicht gesehen und verstand nicht, was an dieser Aussage so außergewöhnlich sein sollte. Hätte auch von mir stammen können – wenn man das Sumo-Ringen auf die westlichen Sportarten ausweitet.

Stoyke räumte freimütig ein: „Ich habe bis heute alles drei nicht be­griffen.“

Stoyke bin ich. Thema Krieg: War schon meine bei der Gesinnungsprüfung vor dem Wehrdienstverweigerungsausschuss vorgebrachte Haltung die Frucht meiner Depression? Das Lebensgefühl, nicht eingreifen zu können oder zu wollen. Nicht, dass ich plötzlich mit 54 Jahren dem Krieg das Wort reden möchte. Aber ich beginne, meine Geschichte als eine gelebte Depression zu begreifen.

Depression – das Menetekel der Wirtschaft und anderer mir fremden Denkweisen. Krieg, Business, Sport. Wettkämpfe, Rivalitäten, Rankings.

Wie mir dagegen als Siebzehnjähriger Samuel Beckett mit seinem ersten Satz aus „Murphy“ aus dem Herzen sprach! The sun shone, having no alternative. On the nothing new.

Es war die Zeit des „Fremden“, die Zeit Camus’ und Sartres.

Über die Musik, die ich mochte und mag, sagen mir Andere – Freunde wie Rezensenten –, sie sei düster. Gegen mein musikalisches Verständnis wurde ich einmal in einem Plattenladen auf die Dark-Wave-Ecke verwiesen. Zugleich gilt auch, dass der Depressive gegen äußere Aufheiterungsversuche resistent ist. Karneval kann mich in die Flucht jagen, und keine Stimmungskanone der Spaßgesellschaft heitert mich mehr auf als Komponisten sogenannter dunkler Musik. Von ihnen fühle ich mich besser verstanden, und schließlich sucht jeder sich selbst.

Aber die Depression entscheidet nicht nur die ästhetischen Vorlieben, sie hat mir meine Biographie geschrieben.

Zu meinem Tagesablauf gehört das Morgentief, die Lähmung aller Glieder und Gedanken bis in den späten Vormittag hinein. Gelesene Sätze muss ich wiederkäuen, als lernte ich erst mühsam die Sprache. Ideenflucht, wildes Assoziieren, mangelnde Konzentration, Anstöße und Überforderung – fünf oder sechs gleichzeitig geöffnete Browser beim Surfen im Internet spiegeln nur annähernd wider, was alles durch meinen Kopf rauscht.

Ein Morgentief bei der Klausur um neun Uhr schwächte mir das „Summa cum laude“ zum „Magna cum laude“ ab. Ich wusste alles; ich konnte nichts zu Papier bringen.

Ob ein besseres Prädikat auf der Promotionsurkunde mir eine andere berufliche Biographie beschert hätte? Unerheblich. Denn die Auswirkungen der Uhrzeit auf meine Aufnahmefähigkeit begannen viel früher. Auf der Realschule (vormittags) war ich ein mittelmäßiger Schüler, einmal sogar versetzungsgefährdet. Da wurden vermutlich die Weichen gestellt, später nicht auf Lehramt, sondern auf Magister zu studieren. Auf dem Abendgymnasium war ich Klassenbester. Das war meine Uhrzeit. Wenn ich weiß, der Tag ist gelaufen, jetzt kann nicht mehr viel schief gehen, lebe ich auf. Schlafenszeit? Nein, noch nicht. Ich habe doch noch gar nichts geschafft und noch so viel zu tun.

Bereits nachmittags kündigt sich der zu erwartende Abendfriede an.

Meine Bewerbungsgespräche beim DAAD: vormittags, und ich kam nicht nach Shanghai. Nachmittags: Ich kam nach Brasilien. Nachmittags: Ich kriegte die Stelle als Fachbereichsleiter, von der ich regelmäßig vormittags überfordert bin – Anrufe, Besuche, E-Mails hageln zu schnell auf mein verlangsamtes Reaktionsvermögen ein. Am Feierabend dann der Schreibrausch.

Trotzdem versprühen auch die im Rausch runtergeschriebenen Texte mein depressives Selbstverständnis. Leser lehnen sie mehrheitlich ab. Ihre Haltung passt eher in die Nachkriegsdepression als zu dem seit den Achtzigerjahren siegreichen Erfolgsdenken, das auch durch die gegenwärtige Wirtschaftskrise nicht erschüttert wird. Im Gegenteil: Es scheint, als sei der Zweifel an allem und jedem ein Luxus der Wohl­stands­gesellschaft gewesen.

Und wie sieht es mit dem verminderten Selbstwertgefühl aus, das den depressiven Menschen kennzeichnet? Ich rette mich gern in Pauschalierung: Wer weiß, ob nicht die gesamte Menschheitsgeschichte nur eine Episode in der Ewigkeit des Kosmos ist? Das entlastet mich unbedeutendes Einzel-Individuum.

Die Depressionsforschung hat verschiedene Thesen aufgestellt. Nicht ausreichende positive Verstärkung im Sozialleben, Erschöpfungsdepression, aber auch genetische Ursachen, bakterielle Erkrankungen und allgemein die im Körper sich abspielenden chemischen Prozesse schreiben unsere Biographien.

Ist es daher nicht bezeichnend, wenn gerade die Einnahme einer chemischen Substanz mir das Mittel gegen Antriebslähmung und Interessenverlust aufzeigte: den Fürwitz?