194 – Ataraxie und Fürwitz (I + II)

Wolfgang Cziesla: DER FIRWITZ – 194. Teilabriss

Ataraxie und Fürwitz I

Wie ist das stoische Lebensideal des Unbeteiligtseins mit dem Fürwitz zu vereinbaren, von dem doch eher Unruhe ausgeht? Ohne Antworten schreibe ich mich von Aporie zu Aporie, so wie der „Grundriss der pyrrhonischen Skepsis“ des Sextus Empiricus eine Kette von Aporien beschreibt.

Im jungen Samuel Beckett, der zum Beispiel im Traum von mehr bis minder schönen Frauen jede gemachte Aussage gleich wieder negiert, jeden Aufbau mit ein paar Kommentaren zunichtemacht, steckt mehr Sextus Empiricus, als er uns verraten hat. Unübersehbar in Murphy.

In die angestrebte Seelenruhe hinein sticht der Firwitz, wie um die große Befürchtung eines Beckettschen Protagonisten zu bestätigen, es könne auch andere Bedürfnisse geben als in Frieden zu verfaulen.

Firwitz negiert die Ataraxie, und mit der Relativierung aller Werte soll ja gerade die Seelenruhe erreicht werden.

Beckett selbst bringt das Dilemma im Traum … [Taschenbuch-Aus­gabe, Seite 311] auf den Punkt:

„ ‚[…] Der Geist nimmt an der Teilnahmslosigkeit, die er enthält, keinen Anteil, jedoch …‘

‚Basta‘, sagte die Alba.“

Die junge Frau erreicht mit einem fünfbuchstabigen Wort, was Sextus Empiricus in drei Büchern mit insgesamt 87 Kapiteln nicht gelang.

[Notizbuch vom 30.06.2013]

 

Ataraxie und Fürwitz II

[Aufs Neue:] Wie ist Fürwitz mit Ataraxie zu vereinbaren? Mein Leben lang strebte ich nach Seelenruhe, der Unerschütterlichkeit des Gemüts, der Glückseligkeit der Stoiker, und mehr noch nach der Ataraxi der Epikureer und Pyrrhoneer. Dagegen war der Fürwitz, den ich etwa ab meinem zwanzigsten Lebensjahr leben zu müssen meinte, etwas Unruhiges, Aufgeregtes, die Polypragmosyne des Voyeurs, die Entdeckungslust des Reisenden, das abenteuerliche Herz. „Bald sticht ihn der Fürwitz …“, wie es in der Historia von D. Johann Fausten treffend heißt. Das Gestochenwerden verletzt die Ruhe.

Einen Hinweis zur Vereinbarkeit von Ataraxie und Fürwitz finde ich bei Sextus Empiricus. Das Argumentieren in zwei Richtungen, der versuchte Beweis der Relativität, die Antwort an die Dogmatiker, dass es nichts Gesichertes gibt, dass alles vermeintlich als richtig Erkannte angezweifelt werden kann, lässt den pyrrhonischen Skeptiker nach Gründen suchen, mit denen noch das Unwahrscheinlichste dem allgemein für wahr Gehaltenen gleichberechtigt an die Seite gestellt werden kann. Der Pyrrhoneer zieht in seiner Beweisführung das Abgelegene heran.

Sich aber gerade mit dem Randständigen, dem Nicht-Notwendigen zu beschäftigen ist das, was für Descartes den Curiosus ausmacht, den fürwitzigen Menschen. Der Begriff „Kuriosität“ wurde seitdem für Gegenstände mit fragwürdigem Nutzen verwandt. Kuriositäten gehören eher zum Sonderling als dass sie im allgemeinen Gebrauch wären.

Auch Sextus Empiricus polemisiert gegen seine Zeitgenossen und Vorgänger, die in der Evidenz einen Beleg für das Wahrscheinliche und in der Wahrscheinlichkeit die engste herstellbare Nähe zur grundsätzlich nicht beweisbaren Wahrheit sahen.

Warum aber wollten die pyrrhonischen Skeptiker das Unwahrscheinliche dem Evidenten gleichberechtigt entgegenstellen?

Weil sie sich von der Einsicht in die grundsätzliche Unentscheidbarkeit ein Ende der rastlosen Suche und damit das Erreichen des Zustands der Ataraxie versprachen. So kann der Fürwitz zur Seelenruhe führen.

                                               [Notizbuch vom 09.07.2013]