228 – Versuch über den Wunsch, nicht so schnell fertig zu werden

Wolfgang Cziesla: DER FIRWITZ – 228. Teilabriss

Versuch über den Wunsch, nicht so schnell fertig zu werden

Meine Mitarbeiterin ist super. Schnell, gründlich, gewissenhaft, eine vorbildliche Arbeitnehmerin. Noch zwei Minuten vor ihrem Feierabend haut sie in die Tasten, um auch die letzte unbeantwortete, eben erst eingetroffene E-Mail zu erledigen. Auf ihrem Schreibtisch bleibt nichts liegen.

Wenn ich mich mit ihr vergleiche, frage ich mich, warum werde ich mit meinem Pensum nie fertig? Liegt das an der zunehmenden Langsamkeit des Älterwerdenden? Haben mich die zehn Jahre in Südamerika verdorben, die Mañana-Mentalität? Pathologische Aufschieberitis? Obwohl ich am späten Freitagnachmittag in der langen Reihe der Büros der einzige bin, der immer noch das Liegengebliebene abarbeiten muss, reicht die Woche nicht aus.

Ist meine Kollegin einmal früher mit ihrer Arbeit fertig, beginnt sie sich zu langweilen und sucht unruhig nach neuen Aufgaben. Die Wochenenden sind ihr, wie sie mir montags erzählt, nicht – wie die meinen – immer viel zu kurz, sondern erscheinen ihr unerträglich lang.

Wie anders verhält es sich in meinem Leben. Auch wenn ich morgens bereits wach bin, möchte ich im Bett bleiben, das neben mir liegende Buch greifen und an der Stelle weiterlesen, wo mir am Abend zuvor die Augen zugefallen sind. Oder es drängt mich, die ersten Geistesblitze des neuen Tages sofort zu notieren, vielleicht auch die bizarren Träume festzuhalten, soweit ich mich an sie erinnere. Es hilft nichts – ich muss aufstehen.

Gern putze ich mir ausführlich die Zähne, in Gedanken woanders. Zunge schaben, Gurgeltiraden mit allen Vokalen. Noch mehr Sorgfalt verwende ich auf die Nassrasur bei selbstverliebtem Grimassieren, mit geschlossenen Augen und tastendem Finger, bis die letzte Bartstoppel weggeschält ist. Ich genieße auf meinen Schultern den harten warmen Strahl der Dusche, unter der ich gar nicht wieder hervorkommen möchte. Wer einmal eine Wohnung mit mir teilen musste, weiß ein Lied davon zu singen, wie lange ich morgens das Bad blockiere.

Bedächtiges Auswählen beim Ankleiden, nichts geht schnell. An meinen Bürotagen verzichte ich auf das Frühstück zu Hause. Allein die Zubereitung des Früchtemüslis würde jedes von einem Arbeitgeber tolerierte Zeitmaß sprengen, und säße ich erst einmal beim Frühstück, früher mit drei oder vier Tageszeitungen, heute im Labyrinth der Online-Nachrichten versunken, wäre an ein Weiterkommen vor dem Nachmittag nicht zu denken.

Die Zugfahrt, dreißig Minuten im Regionalexpress oder alternativ fünfundvierzig in der S-Bahn, geht viel zu schnell vorüber. Kaum Zeit für Lektüre oder zum Notieren dessen, was mich umtreibt. Denn im Zug kann ich mich meistens, selbst wenn Mitreisende lautstark telefonieren, wunderbar konzentrieren; am liebsten würde ich durchfahren bis Italien.

Bis hierher könnte der Eindruck entstanden sein, ich wolle der Pflicht, dem leidigen Brotberuf, ausweichen. Doch auch im Büro gilt: Einmal in Schwung gekommen, gibt es kein Aufhören mehr. Bis neben mir der Hausmeister demonstrativ mit dem Schlüsselbund klimpert oder mich ohne Warnung probeweise einsperrt.

Zu Hause erwartet mich die pflegebedürftige Mutter. Auch die Zeit mit ihr ließe sich effizienter organisieren, zumindest die Grundversorgung in kürzerer Zeit erledigen. Aber sind Mütter ohnehin mit der Begabung ausgestattet, ihre Kinder lange bei sich zu halten, so versteht sich die meine ganz besonders auf diese Kunst.

In meiner Wohnung angekommen, liegen E-Mails von Freunden vor, denen ich mich, ein langsamer, bedächtiger Schreiber, selbst bei Kurzmitteilungen entweder bis spät nachts hingebe, oder sie bleiben wochen-, monatelang unbeantwortet. Gegen Mitternacht geht es erst richtig los. Die Arbeit ist geschafft, ich gebe mir frei, lasse mich vom Internet verführen; es gilt tiefe Informations- und Wissensklüfte zu füllen. Danach Lektüre im Bett, bis ich wegsacke.

Resümiere ich meinen üblichen Tagesablauf, könnte ich mir einreden, dass ich mich wohlfühle, womit auch immer ich mich gerade beschäftige. Jede Tätigkeit möchte ich länger fortführen; nichts soll enden. Ich muss ein glücklicher Mensch sein. Die Dinge will ich nicht hinter mich bringen, nicht alles so schnell wie möglich erledigen. Denn was wäre, sollte ich wirklich einmal mit allem fertig sein?

Wenn mein Leben insgesamt so abläuft wie die Mehrzahl meiner Tage – und ein langsamer Start, eine vertrödelte Jugend, spätes Erwachsenwerden (wenn überhaupt) könnten als Zeichen in diese Richtung weisen –, wäre ich mit meinem Schicksal einverstanden. Ein nicht enden wollender Ausklang, das Schönste, das Entscheidende gleichsam in der Nachspielzeit, bis mir spät, sehr spät in der Nacht, vor Erschöpfung die Augen zufallen.

 

[8. September 2013]