244 – Strategie

Wolfgang Cziesla: DER FIRWITZ – 244. Teilabriss

Strategie

Hoch geschätzter Herr Verleger,

wie Sie an meiner Unbekanntheit leicht ersehen können, habe ich mich bislang vom Literaturzirkus möglichst fern gehalten und den Markt gemieden. Heute Morgen aber ist mir eine Strategie durch den Kopf gegangen, wie sich angesichts drohender Altersarmut meine lebenslange Mühe um die Herstellung lesenswerter Literatur doch noch zu Geld machen ließe.

Ich fühle mich verkannt, fast immer missverstanden und maßlos unterbewertet. Damit könnte ich doch zur idealen Identifikationsfigur all derer werden, die sich in ihren jeweiligen Tätigkeiten und menschlichen Beziehungen ebenfalls nicht hinreichend anerkannt, fehlinterpretiert und unterschätzt fühlen. Den meisten also. Ich könnte von einem Massenpublikum geliebt und gelesen werden.

Selbstverständlich darf ich dazu kein gelungenes, überschaubares und gut konsumierbares Werk vorlegen. Sonst würde ja jeder Rechtschaffene denken: Woher nimmt dieser Güllenscheißer die Kraft, mit solcher Sorgfalt und gedanklichen Konzentration ein Werk auszuführen, das wir alle gern hinbekämen, wozu uns Geplagten aber leider die Zeit fehlt? Wir, die wir abends erschöpft nach Hause kommen, die Energien in der Reibung des Arbeitstags verausgabt, noch nicht müde genug zum Schlafen, aber unfähig, usw. Wir alle, die wir nicht von Steuern leben, sondern sie bezahlen müssen. Wie wir für alles bezahlen.

Das kennt doch jeder: Dass einem zu den guten Vorsätzen für den Tag, die man vor dem Aufstehen noch hatte, spätestens beim Frühstück ein Grund einfällt, warum man sie auch an diesem Tag nicht wird verwirklichen können.

Entsprechend präsentiere ich Ihnen und dem Lesepublikum die Bruchstücke eines nicht oder unzureichend verwirklichten Werks. Texte, die manchmal mitten im Satz abreißen, wenn der Regionalexpress in den Düsseldorfer Hauptbahnhof einrollte und sich im weiteren Tagesverlauf keine Gelegenheit ergab, den Faden aufzugreifen. Und am nächsten Tag waren da schon wieder ganz andere Gedanken, die ebenfalls nicht zu Ende gedacht werden konnten.

Veröffentlichen Sie meine Texte bitte so, wie sie sind. Damit die Leute sehen, dass auch einem Schriftsteller nicht alles gelingt. Dass ich einer bin wie sie. Von den leidigen Umständen gehindert, die schönsten Ideen in die Tat umzusetzen.

Mit den beiliegenden fünf Paketen breite ich mein ganzes Spektrum an Unfertigem oder nur grob Angedachtem – vielleicht in sehr fehlerhafter Form – vor Ihnen aus und überlasse es Ihnen … Sehen Sie, jetzt schaffe ich es wieder nicht, den Brief vernünftig zu Ende zu schreiben und eine angemessene Grußformel darunter zu setzen.

Ihr ganz menschheitsnah gründlich gescheiterter

 

[Unterschrift unleserlich]

 

 [28.11.2013]