246 – Wurmlöcher durch die Zeit. Wiederbegegnungen mit sich selbst nach Jahrzehnten – fünf Erinnerungen

Wolfgang Cziesla: DER FIRWITZ – 246. Teilabriss

[An dieser Stelle sollen fünf autobiographische Erinnerungen veröffentlicht werden, die zum gegenwärtigen Stand (22.09.2014) teils ausformuliert, zum Teil aber auch noch unvollständig sind. Kostproben:]

[Zeitloch 12:]

Les-Saintes-Maries-de-Fontainebleau

Wie habe ich die Touristen verachtet, die ich in einem Straßenrestaurant in Saintes-Maries-de-la-Mer für viel Geld tafeln sah, 1974 als Tramp, der seine in Marokko billig erstandenen Ziegenfelle für die Nacht hinter den Büschen des öffentlichen Parks oder am Busbahnhof ausbreitete und der sich pro Tag ein Baguette und als einzigen Luxus ein Pain au chocolat gönnte.

Aber mehr noch – erinnere ich mich – habe ich mich über die Pärchen erhoben, die zu zweit tafelten und sich dabei vertraut oder gelangweilt ansahen. Besonders, wenn er ein deutscher Lehrer zu sein schien, oder sie eine deutsche Lehrerin. Einem gealterten Junggesellen, der wie ich heute in einem Restaurant in Fontainebleau (in das er vor allem der jungen Kellnerinnen wegen gegangen ist) über einem aufgeschlagenen Buch sitzt, in dem er nicht liest, weil ihm Gedanken durch den Kopf gehen oder weil vielleicht kurz zuvor mit einem Rucksack ein junger Mensch an ihm vorbeigegangen ist und ihn mit einem unversöhnlichen Blick bedachte, diesem gealterten Junggesellen hätte ich vielleicht auch damals etwas mehr Verständnis entgegengebracht. Kann ich den mittellosen Vagabunden, der ich war, mit dem schwachen Trost für mich einnehmen, dass meine wirtschaftlich erfolgreichsten Jahre inzwischen hinter mir liegen und dass es mir im Alter vermutlich nicht wesentlich (ein bisschen schon) besser ergehen dürfte als auf meinen frühen Trampreisen?

Würde ich mich heute denn wenigstens mitnehmen, wenn ich mich als jungen Mann am Straßenrand stehen sähe, mit flehend in die Höhe gerecktem Daumen? Nein.

 

[Zeitloch 8:]

Dreifachinterview

Fortaleza-CE, 04.03.1998

Ich las heute im ZEIT-Magazin (mit der üblichen verspäteten Ankunft) das Frage- und Antwortspiel zwischen Vladimir Sorokin und Durs Grünbein. Als Kollegen nahmen sich die beiden Schriftsteller die Freiheit zu Fragen heraus, die kein Journalist seinem prominenteren Gesprächspartner stellen würde. Zum Beispiel, mit welchem Tier kannst du dir eine Liebesbeziehung vorstellen?

Wenn ich Interviews lese, stelle ich mir meistens vor, wie ich auf dieselben Fragen antworten würde. Mit welchem Tier? Klarer Fall für mich: Nur mit einer Giraffe. Sie hat die idealen Beine, einen unvergleichlichen Hals und wunderschöne Augen. Meine Geliebten können mir gar nicht hoch genug sein. Zwar handeln meine häufigsten Sexträume davon, dass ein Hund mich umklammert, abschleckt und sein erigiertes Glied an meinem Bein reiben will, doch sind erigierte Glieder auch im Wachzustand nicht meine privilegierten Körperteile – außer eben Giraffenhälse.

Es war Sorokin, der Grünbein die Frage nach dem Liebestier gestellt hatte. Eine andere Frage des Doppelinterviews: Welchen Brief würdest du dir selbst als einem Sechzehnjährigen schreiben? Grünbein schrieb den Brief ähnlich, wie auch ich ihn schreiben würde: Lieber jüngerer Bruder, im Grunde weißt du schon alles, was ich jetzt auch weiß …

Nur die Beispiele, die Grünbein nennt, würde ich variieren.

Lieber Wolfgang, könnte ich mir schreiben. Ich kann dich beruhigen: Mit Dreiundvierzig führe ich ein ähnliches Leben, das ich mir in Deinem Alter vorgestellt habe, mit Dreiundvierzig zu führen. Nur sind die Städte, in die ich komme, nicht mit Fotos von mir plakatiert. Auch lese ich nicht überall aus meinen Werken, die im Übrigen noch größtenteils ungedruckt sind, wenn nicht gar ungeschrieben. Ich hoffe, mir im Alter von Sechsundachtzig schreiben zu können: Lieber Wolfgang, ich kann Dich beruhigen …

Aber immerhin habe ich meine Absicht wahrgemacht, an verschiedenen Plätzen der Welt zu leben. Ich sitze, während ich Dir dies schreibe, am Atlantik – Europa gegenüber. Meine Wohnung liegt einen Spaziergang von zwanzig Minuten entlang der Strandpromenade entfernt, wo mir ein warmer Abendwind entgegenweht. Noch in einer anderen Hinsicht kann ich Dir die Angst nehmen: Viele Geliebte warten auf Dich, wenn auch die wenigsten von ihnen Giraffen sind.

Sorokin gab auf die Frage nach seiner schriftstellerischen Mission eine gute Antwort. Die Mission des Schriftstellers liege darin, sachkundig über seine Phantasien zu schreiben.

Da wird auch klar, warum ich keine Mission habe: Ich verstehe im Grunde nichts von Giraffen.

Grünbein auf die Frage, woran man schlechte Literatur erkenne: Schlechte Literatur ist von guter auf den ersten Blick kaum zu unterscheiden. Aber bei näherem Hinsehen stimmt immer weniger.

 

[Zeitloch 4:]

Michael und das Jahr 2000

„2000 – ob wir dann noch leben?“, fragte ich.

Er gehe stark davon aus, sagte Michael.

Ich rechnete. Jetzt bin ich zwölf. 1967. Bis 2000 sind es noch dreiundzwanzig, nein dreiunddreißig Jahre. Zwölf plus dreiunddreißig … fünfundvierzig wäre ich dann.

Unvorstellbar alt. Aber ich wusste, dass die meisten Menschen länger lebten. Meine Oma war mit dreiundsechzig gestorben.

„Warum ziehst du dein Geburtsjahr nicht einfach von 2000 ab?“, fragte Michael. „2000 minus 1955 gleich 45.“

Insgeheim musste ich zugeben: Michael war der pfiffigere von uns beiden. Wir kannten uns seit dem ersten Jahr der Grundschule, die damals noch „Volksschule“ hieß. Jetzt, im zweiten Jahr der Realschule, waren wir noch immer Freunde und Rivalen.

Im Rechnen war mir Michael stets voraus. Doch will ich mich im Nachhinein nicht damit zufrieden geben, dass ich zeitlebens der Umständlichere von uns beiden blieb. Meine Art zu rechnen – sage ich mir heute – passte damals und passt noch immer zu meinem Wesen. Der Gedanke ans Jahr 2000 war nicht einfach eine Rechenaufgabe, bei der man möglichst zielstrebig zum richtigen Ergebnis gelangen musste.

Indem ich unsere Gegenwart, das Jahr 1967, ins Spiel brachte, setzte ich die bereits gelebte Zeit – zwölf Jahre – in eine Beziehung zu der noch fehlenden bis zum Jahr 2000. Dreiunddreißig Jahre, das war fast drei Mal so viel, wie das, was ich schon hinter mir hatte. Und ich gehörte nicht mehr zu den Kleinen. Mit zwölf kannte ich die britischen Charts rauf und runter, tanzte zum selben Beat wie die Älteren, war empfänglich für die schockfarbene Mode aus der King’s Road, begeisterte mich für Mädchen in Mini-Röcken und verstand es, meinem Genital ein neuartiges Kribbeln zu entlocken. Noch drei Mal eine solche Zeitspanne, dann musste das Leben gelaufen sein. Meine Eltern waren um die Vierzig, und ich wusste nicht, ob sie noch etwas erwarteten.

Entscheidender aber: 2000 – das war pure Utopie. Die Handlung der Science-Fiction-Heftreihe, die ich als Zwölfjähriger las, setzte im Jahr 1971 ein. Es war in den Sechzigerjahren ja nicht einmal ein „1984“ vorstellbar, ganz abgesehen davon, dass ich als zwölfjähriger Schüler von einem Roman dieses Titels noch nichts gehört hatte. 2000 war absolut phantastisch, und Michaels selbstverständliche Einschätzung, fünfundvierzig sei doch keine übertriebene Lebenserwartung, ernüchterte mich, noch bevor Freude aufkommen konnte, das unvorstellbar ferne Jahr höchstwahrscheinlich noch erleben zu dürfen.

Im Jahr 2000 wohnte und arbeitete ich in Brasilien. Von meinem Klassenkameraden, zu dem ich seit Ende der Realschulzeit, also seit fast genau dreißig Jahren, keinen Kontakt hatte, erreichte mich dort ein Brief. Nicht die Erinnerung an unsere Rechenübung aus dem Jahr 1967 war das Thema. Michael wollte ein Klassentreffen organisieren. Anlass dazu sollte kein runder Jahrestag unseres Schulabschlusses sein, vielmehr wies Michael darauf hin, dass sich zu Ostern 2001 – ebenfalls eine science-fiction-trächtige Jahreszahl – unsere Einschulung in die Volksschule zum vierzigsten Mal jährte. Meine brasilianische Adresse hatte Michael bei meinen weiterhin im Ruhrgebiet lebenden Eltern erfragt. Es folgte ein langes Telefonat, das ihn ein kleines Vermögen gekostet haben muss.

Das Klassentreffen kam nie zustande. Die meisten, die Michael anschrieb, antworteten nicht oder sagten ihre Teilnahme ab. Aber wenn es einen Chronisten unserer gemeinsamen Schulzeit gibt, dann ist es Michael. Später, als ich wieder in Deutschland lebte, zeigte er mir die von ihm zusammengetragenen Lebensläufe unserer alten Klassenkameraden. Er gestand mir, was ihn bei seiner detektivischen Recherche vor allem angetrieben habe, sei die Erwartung gewesen, das Mädchen wiederzusehen, in das er sich mit sieben oder acht Jahren verliebt hatte. Er nannte einen Namen, den ich wohl gleich mit dem Wechsel auf die Jungen-Realschule vergessen hatte.

Inzwischen liegt der vierzigste Jahrestag unserer Einschulung ebenso viele Jahre zurück wie ich alt war, als ich zum ersten Mal dreiunddreißig Jahre weit in die Zukunft rechnete. Michael hat unabhängig vom nicht zustande gekommenen Klassentreffen seine Kinderliebe wiedergetroffen, ist dafür 400 Kilometer weit gefahren und wurde enttäuscht. Aber seine Mühe hat schließlich dazu geführt, dass der engere Kreis unserer Kinderbande aus der Brassertstraße sich wiedergefunden hat.

 

[Zeitloch 16:]

Zwei Wegkreuzungen

Der Sommer ist endlich angekommen und ist trotzdem kein Sommer wie Frankreich 1980. Keine kurzen Hosen, keine bodennahen Nächte im Zelt, keine spontanen Bäder in Flüssen, kein auf einer Caféterrasse aufgelesenes Mädchen; vor allem bin ich nicht mehr fünfundzwanzig. Ein Montagabend vor dem Hôtel de Ville beim zweiten halben Liter Stella, ein aufgeschütteter Sandstrand mit Plastikpalmen, Abenteuerspielgeräten, und nur der Ginster ist nicht künstlich. Da geht Robert Louis Stevenson vorbei, würdevoll mit gegerbter Haut. Neben ihm, etwas kleiner, seine Frau Fanny, und in einer weiß-blau-roten Sportjacke der zwölfjährige Lloyd Osborne. Sie beachten mich nicht.

Antwerpen liegt mir noch auf der Lunge und kreist in den Blutbahnen. Die letzte Nacht fast ohne Schlaf. Schon der ausgediente Läufer auf der steilen Holztreppe kündigte den Mief des Mansardenzimmers an, wo sich in Vorhängen, Teppichboden und Matratze der Zigarettenqualm von Generationen festgesetzt hat. Während ich beim Gang entlang der Schelde Kopf und Körper von der stickigen Nacht zu lösen versuche, lässt mich die Frage nicht los, ob sich an den Farben Rot und Blau bestimmen ließe, welche der Wesen über der Madonna mit den geometrisch kugelförmigen Brüsten im Königlichen Museum für Schöne Künste die Cherubim und welche die Seraphim sind. Als könnte man sie an ihren Farben erkennen wie zwei gegeneinander antretende Mannschaften.

Durch die Stadt nach den Prinzipien situationistischer Psychogeographie. Und dann die Eile, weiterzukommen.

So, wie Robert Louis Stevenson die Kanufahrt mit seinem Freund und Kommilitonen Walter Grindlay Simpson von Antwerpen über Maubeuge und auf der Oise bis zu ihrer Mündung in die Seine beschreibt, lässt sich die Strecke mit dem Auto ohnehin nur im Groben nachreisen. Der Fluss ist mal rechts, mal links der Straße, die meiste Zeit aber gar nicht zu sehen. Durch Neubau-Vororte ein schnurgerader Kanal. Ist das der Willebroek-Kanal, den Stevenson und Simpson entlang gepaddelt sind? Die Straße kreuzt ihn ein einziges Mal, dann bin ich schon auf der Ringautobahn um Brüssel und nachmittags in Maubeuge, an der Sambre.

Auf keiner meiner vielen Fahrten nach Frankreich hatte es mich jemals verlockt, eine Pause ausgerechnet in Maubeuge einzulegen. käme die Stadt nicht in Stevensons 1878 erschienenem Buch „An Inland Voyage“ vor, wäre ich auch heute direkt durchgefahren.

Stevenson und Simpson warteten hier darauf, dass ihre Kanus aus dem Zoll ausgelöst wurden. Stevenson klagt, gerade er werde an Grenzen besonders ausführlich verhört. Als Achtzehn-, Zwanzig-, auch noch als Fünfundzwanzigjähriger teilte ich solche Erfahrungen, an innereuropäischen Grenzen gründlich kontrolliert zu werden. Vergangenheit, zum Glück.

Stevenson und Simpson hatten keine Absicht, sich in der Garnisonsstadt Maubeuge länger als nötig aufzuhalten. Stevenson notiert die Klage eines Busfahrers, der tagein, tagaus immer die gleiche Strecke zwischen dem Bahnhof von Maubeuge und dem Gasthof Grand Cerf chauffieren muss und der den beiden Engländern ihr Abenteuer neidet. Die Frage „What Am I Doing Here“ – ein Buchtitel Bruce Chatwins, der sich mir eingebrannt hat – stelle auch ich mir in Maubeuge. Im Ersten Weltkrieg von den Deutschen bis zur Kapitulation belagert, im Zweiten Weltkrieg in Brand geschossen, ist vom historischen Zentrum der grenznahen Befestigungsanlage nichts mehr übrig.

Nachmittags trinke ich Kaffee in Guise an der Oise und bin bald darauf schon in Saint-Quintin. Warum sich ein Ziel setzen, wenn es so leicht zu erreichen ist? Mit dem Auto sind das keine Entfernungen. Obwohl ich für die Fahrzeuge hinter mir viel zu gemütlich über die N2 trödele, geht mir alles zu schnell. Nicht einmal Hinweisschilder zeigen die vielen kleinen Ortschaften an, die ich während meiner Radtour mit Andy 1980 notiert habe, Aufzeichnungen, die ich mir ebenso wie Stevensons „An Inland Voyage“ für die Reise eingesteckt habe und die ich nun auf dem Platz vor dem Hôtel de Ville in Saint-Quintin wieder lese. Wimy, Luzoir, Gergny, Etréaupont, Autreppes, Marly, Faty – unterbrochen durch Notizen wie „Hauptstraße bis Hirson bergig“ – „viel geschoben, müde.“ – „Suppe gekocht“ – „Abendsonne. Im Gras gelegen“ – „In hohem Gras Zelt aufgebaut. Suppe gekocht“ – „Morgens Regen. Den ganzen Tag über Regen. Trotzdem zusammengepackt“ – „Weiter geschoben und gefahren durch Macquigny, Bernot, Marcy, Homblières bis Saint-Quentin“ – „Auf Wiese am Fluss gezeltet. Im Zelt Suppe gekocht“ – „Abends Bar mit altem Schotten. 2 Kaffees, 2 Ricard getrunken. Nachts weitergefahren.“

An den Schotten in der Bar erinnere ich mich gut. Er sprach nur ein paar Brocken Französisch, die jeder kennt, die er aber endlos variiert. Damit versuchte er die junge Kellnerin für sich einzunehmen. O là là, Madame … il pleut … o là là … l’amour … o là là …

An allen Stellen des Tagebuchs tauchen Suppen auf, Tütensuppen, auf die ich mich im Supermarkt mit Andy einigen konnte. Ich neigte schon damals nicht zur Häuslichkeit, war ein endlos in Cafés Sitzender und trotz meines chronischen Geldmangels ein Kneipengänger.

Andy hatte das schwerere Rad zu schieben. Richtig so. Schließlich war es seine Idee, den ganzen Krempel mitzunehmen. Zelt, Iso-Matte, Kochtopf, Camping-Gas, Lebensmittel – ich hätte das alles nicht gebraucht, konnte auf dem Boden schlafen, wollte im Urlaub nicht kochen, nicht spülen, keinen Supermarkt betreten. Ein trockenes Teil aus der Bäckerei, ein Straßencafé genügte.

Wir beide gaben ein ungleiches Paar ab, ich schmächtig, aber zäh, Andy groß und kräftig. Damals trug er noch nicht das Häkelkäppchen, das ihn als Sufi-Bruder ausweist und das er selbst vor dem Standesbeamten nicht abgenommen hat. Aber seine „Kameltreibermütze“ – wie er sie nannte – hatte eine ähnliche Form. Während die Normandie nicht enden und die Bretagne nicht näher rücken wollte, sog sich die kamelhaarfarbene Wollmütze voll Regenwasser, die weitgereiste Mütze, die er sich auf dem Rückweg von Goa gegen die nächtliche Kälte im Bus durch Parkistan, durch den Iran, durch Anatolien zugelegt hatte.

Wir saßen lange vor dem Zelt, bei Regen im Zelt, lasen uns gegenseitig Carlos Castaneda vor, aßen Müsli. Andy hätte wohl noch länger im oder vor dem Zelt sitzen können. Mich aber trieb es auf Erkundungsfahrt in die nächste Kleinstadt mit einem Straßencafé zum Lesen und Warten auf Andy, der immer ein bisschen länger benötigte zum Ordnen seiner vielen Sachen und der nicht so rastlos war wie ich. Von Zeit zu Zeit gab es darüber eine ruhige, unaufgeregte Aussprache, über das Allein-Reisen und das Zu-zweit-Reisen, über den ewig angespannten und den grundsätzlich ruhigen Charakter, das alles ohne Vorwürfe, stattdessen mit Erkenntnisgewinn über die Unterschiedlichkeit von Menschen allgemein und über uns beide im Besonderen. Andy beanspruchte mehr Platz im Zelt, trank mehr von der gemeinsam gekauften, gemeinsam bezahlten Milch in seinem Tee, und als ich mit meinem Gerechtigkeitssinn – besonders ausgeprägt, wenn ich mich benachteiligt fühlte – ihn darauf hinwies, schien er mich mit seinem Blick töten zu wollen. Ein Blick, der im Bruchteil einer Sekunde meine Seele scannte, mich abstrafte, richtete, verachtete, die Freundschaft aufkündigte?

Ohnehin war Andy eine Autorität, fünf Jahre älter als ich und die meisten meiner Freunde und Kommilitonen. Es lag sicher nicht nur an seinen schon dreißig Lebensjahren, dass er auf uns wie ein Weiser wirkte. Er hatte Talent zum Guru, schien mit den spirituellen Welten, mit den Dämonen, enger verbunden als alle Normal-Sterblichen (zu denen ich mich ebenso wenig rechnete, wie es bei Andy den Anschein hatte). Wenn Andy bedächtig seinen fast kahlen Schädel mit dem damals noch langen Krausbart wiegte und nachdenklich sagte: „Ja, ja, ist schon so ‚ne Sache“, wagte niemand zu widersprechen oder zu lachen. O là là, Madame, il pleut.

Das Dämonische hatte er zum Teil damals schon in heilende Bahnen zu leiten vermocht. Später, als Heilpraktiker, ließ er die kosmischen Energien durch seine Hände in die Patienten überströmen, und er kann bis heute davon leben.

Saint-Quintin nun und Zwei-Sterne-Standard für die Nacht. Keine Gras-Berührung, doch über den Giebeln ein ziemlich voller Mond in dem für halb zehn abends immer noch hübsch hellen Himmel. Links das Tagebuch, rechts Stevensons Reise-Schilderungen und vor mir ein drittes Bier, breite ich mich aus, während der Kellner schon die Stühle einzusammeln beginnt.

Vor der Abfahrt in Deutschland hatte ich den Eindruck, dass es zwischen Stevensons Kanu-Fahrt und meiner Radtour mit Andy trotz der mehr als hundert Jahre Distanz enorme Parallelen geben musste. Bei der Betrachtung der Karte hinten im Buch stelle ich nun fest, unsere jeweiligen Routen haben sich nur an einer Stelle gekreuzt. Andy und ich fuhren zunächst das Tal der Meuse entlang, stießen bereits bei Hirson auf die Oise, etliche Kilometer näher an ihrem Oberlauf als Stevenson/Simpson. In der Nähe des Städtchens Guise, zwischen Macquigny und Bernot, überquerten wir mit unseren Rädern den Sambre-Oise-Kanal den Kanal, den Stevenson und Simpson entlanggepaddelt sind. Unser Ziel war die Bretagne. Stevenson aber reiste weiter in die Künstlerkolonie Grez-sur-Loing in den Wäldern rund um Fontainebleau, wo er sich, was er freilich auf seiner Paddeltour mit Simpson noch nicht ahnen konnte, in Fanny Osbourne, seine spätere Ehefrau, verlieben würde.

Der dritte Tag in den Wäldern rund um Fontainebleau. Ich verlängere. Gegen vier Uhr nachmittags einen langen Waldspaziergang begonnen, über felsige Hügel. Selbstgespräche, deren Witz mich überrascht (nach Wochen des Überdrusses und der Lustlosigkeit). Gesungen, wieder alte Blues- und Zappastücke, Jazzpartien, die als unsingbar gelten, um vor mir selbst zu verbergen, dass ich nicht singen kann. Seit meinen ersten Trampreisen begleiten mich die Anfangszeilen eines alten Rory-Gallagher- (oder Taste-)Songs (obwohl ich nie ein Rory-Gallagher-Fan war): I’m leaving in the morning, I don’t know which way to go … Aber dann variiere und improvisiere ich den weiteren Text (und die Melodie) in meinem Sinne. Jeden Tag wie einen neuen Anfang erleben, dessen ungewisser Ausgang eher meine Neugier reizt als mich beunruhigt. Ich spiele, solange ich mich unbeobachtet glaube. Mime den Mr. Hyde oder lasse mich von meinen Dämonen reiten, gutartige zustände von Besessenheit, die ich mit einem Fingerschnippen – oder auch ohne – auflösen kann wie jede Schauspielerei. Spreche mit fremden Stimmen, lasse die Augen hervortreten wie bei einem Goblin oder stelle mir vor, ich sei Gabi. Mitten im Wald, als ich nicht damit rechnete, hielt ein wagen neben mir, und der freundliche Fahrer fragte, ob er mir helfen könne. Nein, das konnte er nicht, der liebenswürdige Franzose.

[An dieser Stelle wurde das Schreiben des Texts abgebrochen und bisher (22.09.2014) noch nicht wieder aufgegriffen]