Wolfgang Cziesla: DER FIRWITZ – 30. Teilabriss
30 Jahre Firwitz
Zu der Zeit hatte ich mich fast aufgegeben. Meine Mutter lebte noch, und ich war überzeugt, dass ich mein Leben auf Eis legen sollte. Parkinson-Patienten können alt werden. Es kam nicht mehr darauf an, wenn ich einen Job annahm, der mein Scheitern besiegelte. Jedesmal, wenn mir jemand zu meiner Festanstellung gratulierte, gab mir das einen Stich. Verraten für die Rente. Mich einfrieren und erst mit 65 wieder auftauen. Dann war meine Mutter vielleicht tot. Dreizehn Jahre, meine Güte. Dreizehn Lebensjahre ohne eigenes Leben. Wie viele Menschen mochten sich so fühlen? Oder schlimmer.
Sooft ich mich umsah auf meinem neuen Posten, war ich einer der Lebendigsten. Manche Frauen in der Verwaltung schienen mit möglichst viel Fehlzeiten nur ausharren zu wollen.
Vor zweiunddreißig Jahren war ich an einem ähnlichen Punkt wie heute. Damals habe ich den Absprung geschafft. Noch viele Sprünge, weite Sprünge gelangen mir, solange Mutter sich an meinen Vater halten konnte.
Nie hatte ich solche Gewissheit, mich verkauft zu haben. Aber etwas an mir war einmalig. Weiterhin. Unverwechselbar. Und ich unterbrach meine Perry-Rhodan-Lektüre, die ich als Zwölfjähriger begonnen hatte, im Zug aus Düsseldorf, um über den schwach glühenden Funken zu schreiben, der sich erneut in helles Feuer wandeln konnte, ohne zu denken, aber vielleicht zu ahnen, dass es auf den Tag genau vor dreißig Jahren war, in der Nacht vom 1. zum 2. Dezember 1977, als ich in Tübingen in meinen Taschenkalender notierte: „nachts den Firwitz konstruiert“.
Meine zur Legendenbildung neigende Erinnerung hatte die Geburtsstunde auf den 30. Oktober 1982 nach Langenberg im Rheinland verlegt. Darüber heißt es in meinem blauen Kalender: „Die besondere Nacht. Fulminate hergestellt.“
Auf der Suche nach jenen Fulminaten in meinem Haushalt entdecke ich in der quadratischen Firwitzhülle die Notiz: „Die Nervenbahnen in meinem Körper / wurden zu einer Kralle / und diese Kralle zog sich zusammen / zu dem Wort „Firwitz“ / Ich erlebte, wie eine Stimme in meinem Kopf eine Zwangsneurose einpflanzte, / die ich fortan zu sein und zu leben hatte. / Ich musste in der Welt den Firwitz zum Ausdruck bringen, / das Wissen der Welt ergründend.“ Au, Mann!
Die Kralle im Kopf bzw. im Nacken begegnet mir bei Perry Rhodan wieder, die „Kralle des Laboraten“. Wer war schneller? Ich biete den 1. Dezember 1977, aber Rhodan ist Zeitreisender.
Im Standard-Universum gilt: Dreißig Jahre sind nicht zweiunddreißig. Ein neuer Absprung in sechzehn, um der lieben Zahlenmystik willen?
[Geschrieben am Sonntag, den 2. Dezember 2007, nach einer Nacht, die mich zur Besinnung auf den Firwitz – das Werk – brachte]