Wolfgang Cziesla: DER FIRWITZ – 48. Teilabriss
Aus dem Tagebuch Nr. 28:
(S. 54)
Die Probleme der Gründer anerkennen, d. h. sie minimal – maximal zu widerlegen.
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1888
[die folgenden 6 Wörter stehen auf dem Kopf:]
Ich kenne diese Talfahrt! Der Tod.
(S. 55ff.)
Auray, 20.8.80
Zur letzten Nacht:
Zunächst zur vorletzten: Traumeinsagung, die mir bedeutend vorkam, am nächsten Morgen vergessen.
In der letzten Nacht, Versuch der Rekonstruktion.
[Ein Pfeil führt von hier auf die Seite 54: „Die Probleme … widerlegen.]
Dabei nicht völlige Sicherheit, ob es in der Nacht davor genau so lautete.
Bei der Anstrengung, mich auf diesen geträumten Satz zu konzentrieren, hatte ich ständig eine Einsagung aus dem letzten Sommer in Holland in Erinnerung: „Lehrt in das schlechte Briefpapier, verwandelt das gute“ [vgl. Heft Nr. 25]
Außerdem tauchte die Jahreszahl 1888 auf. Hat der Herzog von Scheder etwas mit diesem Jahr zu tun? Oder Hart-Dieter Könzel?
Blicke gegen den klaren Sternhimmel, wie schon in der Nacht davor. Versuch, den Firwitz am Firmament zu entdecken.
Eingeschlafen. Folgender Traum: Ich fahre in einem Bus, in dem außer mir nur mein Vater sitzt, der Bus rollt schnell bergab, immer schneller. Eine Linkskurve. Am Straßenrand vor mir eine Raststätte mit einer Leuchtreklame. Strahlenförmig gehen gelbe und blaue Leuchtflächen auseinander.
[Hier ist im Tagebuch eine kleine Zeichnung eingefügt]
Da erkenne ich diese Situation wieder. Ich rufe aus: „Ich kenne diese Talfahrt! Der Tod.“
Ich weiß, dass am Ende dieser Talfahrt der Tod wartet und will die schneller werdende Fahrt abbrechen. Inzwischen sitze ich in einem BMW auf der hinteren Bank. Mein Vater noch neben mir. Auf den vorderen Sitzen sitzt niemand. Ich versuche mich mit den Sicherheitsgurten der Vordersitze festzuschnallen, obwohl ich noch immer hinten sitze. Nach einer weiteren Rechtskurve sind wir im Tal. Ich sehe einen verunglückten Motorradfahrer mit Sturzhelm auf der Fahrbahn liegen.
Ich bin wachgeworden. Ein großer Vogel sitzt in den Bäumen am Campingplatz. Er stößt laute Rufe aus. Jeweils 2x hintereinander. Er schreit aus verschiedenen Bäumen. Ich merke, dass viele Leute auf dem Campingplatz davon wachgeworden sind. Ich verstehe die schrillen Vogelrufe als Ermahnung, wieder in den Sternhimmel zu schauen. Sein Schreien dauert an. Der Klang der Vogelrufe verändert sich und scheint mir anzuzeigen, wann ich die falschen Sterne ansehe. Ich habe das Gefühl, durch sein Rufen will der Vogel meinen Blick zum richtigen Stern lenken, indem er schrille Rufe ausstößt, die „falsch“ zu bedeuten scheinen, und weniger schrille, bestätigende Rufe. Ich fixiere schließlich einen Stern und präge mir seine Lage ein:
[Es folgt im Tagebuch eine Zeichnung mit einem Pfeil, der auf einen Punkt (Stern) zeigt, und ein Hinweis zur Himmelsrichtung]
Aus Müdigkeit beobachte ich den Stern nicht länger, denn ich denke, dass mir die Orientierung am Sternhimmel wieder gelingen wird.
[…]
Zeichnung auf S. 75, dazwischen die Wörter (Wortteile):
FIR
riss
= der verlust
der persönlichkeit
wo, zum Teufel, bleibt der WIT[Stift verrutscht (absichtlich)]
(S. 76 ff.)
Es wird ein Machtkampf zwischen mir und meinem Dämon.
Er zieht mich aus meinem sozialen Leben.
Empfängnisbegünstigend sind:
– Vollmondnächte
– Kaffee am Abend oder grüner Tee
– Spaziergänge alleine
– das Meer
– LSD
– die Badewanne
und kommt ein Wind auf, wird es angenehm auszukommen mit IHM.
Ich muss ihm Kraft entgegenbringen und mich nicht vollständig rausreißen lassen, sonst geht mir meine komische Persönlichkeit flöten!
Es beschäftigt mich auf dieser Fahrt fast täglich die Tatsache, dass ich das Buch schreiben soll mit dem Titel, dessen Bedeutung ich erst im Wörterbuch nachschlagen musste.
Es ist doch merkwürdig, wie ich mir Möglichkeiten gesellschaftlichen Zusammenlebens oder Betätigungsfelder scheinbar grundlos selbst verbaue.
Will der Firwitz mich ganz?
Dann ist es aus mit MIR.
Ich muss für diese meine verschiedenen Handlungsweisen andere Wörter finden als
gesund – pathologisch.
Konstatiere Angst, Kontrolle über „mich“ zu verlieren.
Aber mich einfach in Gesellschaft zu begeben, nützt nichts. Da zieht es mich immer wieder heraus.
Ich muss die empfängnisbegünstigenden Situationen bewusst dem Firwitz widmen, die anderen mir.
So scheint es mir jetzt.
[Zeichnung am linken Blattrand]
Beachte, dass auch
RISS
zu derselben Eingebungseinheit gehörte wie Titel und Name der Figuren!
[…]
S. 89ff:
kurz vor Carcans
Nacht vom 29. zum 30.8.80:
Liebe Eltern! Ich bin gerade auf einer Reise. Ihr wisst nicht, wo ich bin. Ihr macht Euch Sorgen. Sorgen, dass mir etwas passieren, klarer: dass ich sterben könnte.
Ich bin in einem Alter, in dem viele meiner Freunde und Freundinnen Kinder haben wollen. Ich fragte viele warum. Die unterschiedlichsten Antworten erhielt ich, vom einfachen Spaß an den Kleinen bis hin zur politischen Strategie, die Weltverbesserung durch entsprechende Erziehung unserer Kinder. Manche Frauen sprachen von einem Gefühl der Leere, dass sie ohne Kinder in ihrem Leben hätten. Aber dieses Gefühl wurde nicht weiter hinterfragt.
Die Antwort von allen, die mir am plausibelsten erschien, gab mir Manuel: Der Wunsch nach Nachkommen hängt zusammen mit der Auseinandersetzung mit dem Tod. In den Kindern lebt ein Teil der Eltern weiter. Kinder als Versuche zur Überwindung des Todes.
Neben den Kindern ist es das Lebenswerk, das von Bedeutung zur Überwindung des Todes ist.
Liebe Eltern! Ich bin Eure Hoffnung auf Unsterblichkeit. Größer als die Angst vor Eurem Tod ist Euch wohl die Angst vor meinem.
Sterbe ich, werdet Ihr keine Nachkommen mehr haben. Ich kann mir vorstellen, dass Ihr mehr Sicherheit hättet, wären bereits Enkel unterwegs.
Auch ich möchte nicht gerne sterben, ohne Kinder gezeugt zu haben. Die Kastrationsangst des Mannes ist da wohl der Todesangst sehr ähnlich.
Aber da ist noch die Sache mit dem Lebenswerk. Ich befürchte, dass das eine, die Kinder, das andere geistige, ich meine MEIN BUCH, den Firwitz, einschränken wird. Und umgekehrt.
Beiläufig: Ich weiß jetzt, dass ich nicht irgendwelche Bücher produzieren muss, sondern lediglich DAS EINE BUCH. Bis zu meinem Tode.
Was nun Euer Werk betrifft: Ich merke Eure Angst, Euer Werk, das, wofür Ihr so viel gearbeitet habt, könnte ins Leere gehen. Ihr wollt mich einweihen. Aber ebenso wenig, wie Manuel hoffen kann, mit seiner Tochter eine interessierte Nachlassverwalterin zu erziehen, müsst Ihr im Zweifel bleiben, ob ich Euer Werk würdig erben kann. Dass Euer Geschäft die Versicherungen sind, ist bestimmt kein Zufall. Ich sehe die Verbindung zur Todesangst. Ihr versichert, so gut Ihr könnt, in einer Welt, in der nichts sicher ist vor dem Tod. Eure hilflosen Kunden fürchten um ihr Wertvollstes, ihr Leben, ihre Gesundheit. Und Ihr tut, innerlich wie äußerlich Euer Bestes, um ihre Suche nach Sicherheit zu erleichtern.
In Nächten wie dieser, da ich denke, dass ich nicht ohne Nachkommen sterben möchte, glaube ich Eure Arbeit zu verstehen. Aber noch ist meine Todesangst nicht groß. Und vorbeugende Überlegungen, was ich tun sollte, um mein Überleben zu sichern, tun jetzt ihre Wirkung noch nicht. Noch kann ich niemandem ehrlich etwas versichern. Ich meine eher, Anderen vorführen zu müssen, wie unsicher alles ist (soweit Andere mich überhaupt interessieren).
Noch reise ich. Bis ich genau weiß, wie mein Werk aussehen muss, schaffe ich mir Bedingungen, das besser herauszufinden. Und dann darf ich nichts mehr versäumen.
Es grüßt Euch Euer
Wolfgang
Im Moment meines Sterbens werde ich ganz Firwitz und suche mir einen offenen Kopf, um mich darin festzusetzen.