Wolfgang Cziesla: DER FIRWITZ – 50. Teilabriss
Ein Zeichenversuch
Die Bilder wollten aufs Papier. Aber von wo aus wollten sie dorthin? Ich kann nicht behaupten, dass sie sich zuvor in meinem Kopf befunden hatten sich und zur Entlastung meiner Psyche ihren Weg nach Außen bahnen mussten. Sie entstanden erst auf dem Papier. Andererseits war ich zu keinem Zeitpunkt – auch nicht auf den Hochphasen der Trips – ein Medium, das einen fremden Willen ausführte. Kein Dämon führte meine Hand. Nichts floss einfach nur durch mich hindurch.
Bereits während des Zeichnens setzte die Interpretation ein und bestimmte das Ergebnis. Besonders deutlich erfuhr ich dieses Verfahren bei dem einzigen Aquarell, dass während der höchsten Wirkungsphase der Lysergsäure entstanden ist.
Ich saß auf einer Weide im englischen Lake District bei Bowness-on-Windermere und hatte einen Aquarellblock, Wasserfarben, Pinsel und ein Gläschen mit Wasser mitgenommen.
Der Zeichenversuch war von Unsicherheit gelenkt. Als mache ich alles zum ersten Mal.
Schon das Papier des Aquarellblocks war nicht einfach eine weiße Fläche, sondern ein Relief mit Bergen und Tälern. Unmöglich, darauf eine gerade oder geschwungene Linie zu ziehen. Das Papier gab die Bewegung vor. Nein, da war auch ich, der steuerte. Aber wohin? Und: Warum? Weil ich mein Tun, mein Leben, selbst bestimmen und nicht willenlos den Elementen überlassen wollte, die meine Bewegungen zerfasern ließen und mein Leben auflösten. „Kontrolle“, dachte ich in einem regungslosen, atemlosen, endlosen Moment. Doch dann ging in dieser Bewegungslosigkeit nichts mehr weiter – nicht das Zeichnen, nicht das Atmen, nicht das Leben. Und mit dem Ausatmen strömte erneut die Wasserfarbe aufs Papier. Was entstand da? Ich wusste es nicht. Es kam mir rätselhaft vor. Oder sogar falsch. Etwas, was ich nicht hatte haben wollen. Ich musste die ausströmende Farbe einfangen, bändigen. Mit angehaltenem Atem. Vielleicht ging es so – im Wechsel von Einatmen, Luftanhalten, Ausatmen – Stück für Stück weiter. Ausströmen der Farbe, stoppen, korrigieren. Auf diese Art setzte sich allmählich ein Bild zusammen, dessen Elemente ich nach und nach erkannte und in ihrem Zusammenhang verstand.
So falsch es schien, das Blatt des Aquarellblocks als eine Fläche anzusehen, so falsch war die Bezeichnung „weiß“. Das Blatt enthielt vielmehr alle Farben innerhalb und wohl auch außerhalb des sichtbaren Spektrums. So, wie ein Bildhauer sagen kann, die Form, die er aus einem Felsblock herausschlage, sei bereits im Stein enthalten, waren auch alle Farben bereits im Papier drin. Womöglich sandte das Papier sogar Signale aus, welche meiner Wasserfarben es an welcher Stelle haben wollte. dann steuerte abermals das Material den Gestaltungsprozess, und nicht ich. Im Gehorchen lag Frieden. Aber ein kreativer Prozess war zugleich auch Kampf. Einklang mit der Materie und Rebellion. Selbstbehauptung, notwendig, wenn ich mich nicht dem Tod überlassen wollte. Aber das würde ich ja sowieso früher oder später. Sterben. Später.
Das Aquarellpapier, obgleich es in dem Block an allen Seiten fixiert war, warf Wellen unter der feuchten Farbe. Die Wellen wiederum erzeugten Schatten. Farbige Schatten, auch sie gaben die Kolorierung vor. Wechselnde Töne, abhängig von Licht und Wolken und Helligkeitsunterschieden, die das menschliche Auge normalerweise ausgleicht, die eine Kamera aber aufzeigen würde. Ich hatte den fotografischen Blick, doch nicht nur den fotografischen. Ich hatte den umfassenden Blick. Und den eingeengten. Wie ich wollte. Wollte ich? Wollte etwas anderes?
Ein Außenstehender – jemand, der nicht in den Entstehungsprozess zwischen dem Aquarellblock und mir einbezogen war – wird nicht nachvollziehen können, wie die einzelnen Elemente der Bildkomposition zustande kamen und warum sie allesamt an genau der Stelle sein mussten, wo sie nun sind. In den folgenden Tagen schrieb ich ein Notizheft voll, um mir den Flash von Bedeutungen und Zusammenhängen zu vergegenwärtigen, der beim Zeichnen und bei der Betrachtung des Gezeichneten durch meinen Kopf ging.
Mit dem Ausklingen des Trips entstand der Plan zu einer Bild-Komposition. Sie auszuführen würde Tage erfordern, und einen nüchternen Zustand.
Noch in der ersten Version, die in der höchsten Wirkungsphase der Lysergsäure entstanden ist, erkannte ich im Vordergrund des Bildes drei Hauptmotive: Das Chaos, die Sphinx und das Gespenst (von rechts nach links). In der durchdachten Komposition wird aus dem Gespenst ein Gattertor mit einer Warnung „Wet Painted“; die Sphinx bekommt einen Ziegenbart (Grasbüschel); und das Chaos gerät zu einem gewundenen Baum. Selbst noch im Hintergrund erhält jedes Bildelement einen (mitunter längeren) Namen. Das weiße mit dem schwarzen Riss oben links heißt zum Beispiel: „Das unberechtigte Feld der berechtigten Einfallslosigkeit (weiß) mit einzelnem Einfall (selbstverständlich ein schwarzer), in den noch so mancher hineinfallen wird, ha!“.
Und beim Malen wusste ich, der Riss steht etymologisch in einem Zusammenhang mit „Ritus“, „ritzen“ und auch „to write“. Mein Gott, ist das beziehungsreich!, denke ich beim Wiederlesen der dreißig Jahre alten Notizen.
Das weiße Feld mit dem Riss am Horizont ist ja nur eines von vielen. Wer wollte meine über etliche Notizbuchseiten immer neu ansetzende Selbstinterpretation jemals lesen? (Denn ich überlege mir ein Wochenende lang, ob ich mir die Arbeit machen will, sie abzutippen.)
Interessanter fände ich heute die Frage, ob die Substanz mit verschiedenen Probanden ähnlich umspringt, oder mir individuell die endlos scheinenden Bedeutungsketten und Querverbindungen aufzeigte, weil das meiner damaligen Art entsprach. Anders gefragt: Steckt die „Erkenntnis“ im Körnchen oder in der Welt oder in mir? Was wird bei solchen Selbstexperimenten gewonnen?
Vor Fehldeutungen, Irrwegen, falschen Prämissen oder Unwissen schützte das chemische Hirnbonbon freilich nicht. Zum Beispiel zur Frage in meinem Notizbuch No. 25 nach einem möglichen Wortzusammenhang zwischen „goat“ (die wie in Stein gehauene Ziege hinter dem frischgestrichenen Gattertor) und „ghost“. Eine durch nichts begründete Spekulation. Es sei denn, ich wollte – aber klingt das glaubhaft? – die Erfahrung aus dem Jahr 1979 als Fußnote zu dem sehr viel später entstandenen Text „Zaunwinde und Geiß“ begreifen. Goat – ghost, Geiß – Geist. Ein längst verblasster Eindruck tritt hervor, als ich ca. 30 Jahre später in meinem Notizbuch No. 25 den Eintrag entdecke: „Beim Malen am 13.8. [1979] auf der Weide mit Ziegen fühlte ich mich wie ein Berggeist.“