054 – Stechen

Wolfgang Cziesla: DER FIRWITZ – 54 . Teilabriss

STECHEN

S-Bahn Düsseldorf – Essen (S6)

Hinter der Lehne der Sitzbank mit dem Rücken zu mir eine junge Frau. Eine ihrer Schultern entblößt; der schmale Träger ihres BHs.

Ich muss an meinen alten Text „Stechen“ denken (ohne mich exakt an den Inhalt zu erinnern) und an José Lezama Limas Roman „Paradiso“. Dort taucht ein Schüler auf, zu dessen Späßen es gehört, seine Klassenkameraden im Unterricht mit seiner spitzen Schreibfeder zu stechen. Er entwickelt eine beachtliche Sprungfertigkeit, um hinter dem Rücken des Lehrers an immer anderen Stellen des Klassenraums zu erscheinen und jemanden mit seiner Feder ins Hinterteil zu stechen.

„Bald sticht ihn der Fürwitz, fordert seinen Geist Mephostophilem, mit dem wollte er ein Gespräch halten […]“, heißt es im Volksbuch über den Doktor Johann Fausten. Auch in anderen älteren Texten ist im Zusammenhang mit dem „Fürwitz“ öfter vom Gestochenwerden die Rede. Die Nähe von „Stechen“ und „Fürwitz“ ist mir aber nie so deutlich geworden wie bei der Lektüre des 4. und 5. Kapitels von Lezama Limas „Paradiso“, in denen der Schüler Fibo beschrieben wird. Ich möchte geradezu von einer dort entwickelten Metaphysik des Stechens sprechen. Mit der Erinnerung daran, ausgelöst durch die Schulter der Frau in der S-Bahn, wird mir deutlich, was ich jahrelang vernachlässigt habe.

Das ist heute die letzte Fahrt mit der S 6, bevor die Strecke und zahlreiche Bahnsteige sechs Wochen lang renoviert werden. Abendsonne und dunkle Gewitterwolken, doppelter Regenbogen und plötzliche Güsse. Bei meiner nächsten Fahrt werden die Sommerferien hinter mir liegen. Vielleicht ist die Schrift dann weniger verruckelt, die Fahrt glatter.

[Notizbucheintrag vom 06. Juli 2012]