Wolfgang Cziesla: DER FIRWITZ – 56. Teilabriss
DAS VERNÜNFTIGE KIND
In einem Zeitungsartikel von Hanns Grössel zu Georges Batailles Die Literatur und das Böse in der Süddeutschen Zeitung vom 12./13. Dezember 1987 lese ich:
Kindheit ist nach Bataille absolute Freiheit – ein wildes Leben „außerhalb der Welt“. Diesem „freien Spiel der Unbefangenheit“ setzt die Gesellschaft „die auf Vorteilsberechnung gegründete Vernunft“ entgegen, wie es in dem Kapitel über Emily Brontë heißt. Deren Revolte liegt in der Weigerung, auf die wilde Freiheit der Kindheit zu verzichten.[1]
Denke ich an meine Kindheit, war da kein wildes Leben, keine Unbefangenheit, kein selbstvergessenes Spiel. Ich war ein vernünftiges Kind, stellte immerzu ernste, vernünftige Fragen, doch die Erwachsenen – Lehrerinnen ebenso wie die Eltern – konnten mir keine vernünftigen Antworten geben. Die Welt war nicht vernünftig, und das ist sie weiterhin nicht. Batailles Formulierung „die auf Vorteilsberechnung gegründete Vernunft“ beinhaltet eine wesentliche Einschränkung. Nach meinem Gerechtigkeitsverständnis, als Kind wie als Erwachsener, müsste es eher „die auf Vorteilsberechnung gegründete Unvernunft“ heißen. Meine Fragen nach dem Warum wurden nicht als Kind und werden bis heute nicht befriedigend beantwortet. Warum Menschen in Kriegen getötet werden, warum Kinder in Biafra verhungern mussten – alle Antworten, die ich erhielt, forderten immer weitere Warum-Fragen heraus. Zwar begriff ich schnell, dass es nichts brächte, wenn ich mein Pausenbrot mit der Post nach Afrika sandte, die Fragen nach der weltweiten Ungerechtigkeit wurden jedoch nie beantwortet. Bei den enttäuschend billigen Antworten, die ich später herausfand, ging es meistens um viel Geld für irgendwen. Der Buchtitel Heliogabal oder der Anarchist auf dem Thron von Antonin Artaud, auf den ich als Jugendlicher stieß, schien mir keinen Einzelfall zu beschreiben, sondern eine abnorme Normalität. Die Herrschenden, die vermeintlichen Hüter der Ordnung, waren Anarchisten, die ihre willkürlichen Entscheidungen bestenfalls – wenn sie denn so ehrlich waren – damit begründen konnten, dass irgendjemand, der ihnen aus irgendwelchen Gründen näher stand als jemand anderes, irgendeinen Vorteil haben würde. Doch ich als Kind verkörperte die Vernunft und die gerechte Ordnung der Welt.
[1] Zitiert nach: Hanns Grössel: Im Labyrinth der Welt. Essays und Kritiken zur französischen Literatur. Ausgewählt und mit einem Nachwort von Norbert Wehr.
Schriftenreihe der Kunststiftung NRW, Literatur, Band 9, Lilienfeld Verlag, Düsseldorf 2017, Seite 279
[Zusatzinformation – nach Ausführung zu löschen:]
Vier antipädagogische Essays – Notizbucheintrag vom 28. Juni 2017 (Notizbuch 64)
Vier antipädagogische Essays, um diese ältere Idee aufzugreifen.
Der erste darüber, was an die Stelle der Schule nach Abschaffung der Schulpflicht treten könnte, ein Modell, das die Interessen und Bedürfnisse der Lernenwollenden aufgreift, anstatt ihnen ein Curriculum aufzudrücken. [Liegt zurzeit vor als Text „Was aus der Schule werden könnte“ – gespeichert in: Immer zur Hand → Romane → Firwitz DAS WERK (noch ohne Teilabriss-Nummer)]
Der zweite zur Entelechie, Aristoteles, Goethe, ich. [Liegt in anderer Form vor, als „Stoyke und die Entelechie“ – gespeichert in: Immer zur Hand → Romane → DER HERZLOSE am 09.06.2012]
Der dritte ist der persönlichste der vier Essays und beinhaltet Beispiele aus meiner Schulzeit. [Hierzu gibt es mehrere Kurztexte: „Osterei zeichnen“ als 3. Teilabriss des Firwitz (im Netz veröffentlicht); autobiographische Notizen zu meinem Klassenkameraden Kraffti, das Märchen-Erzählen in der Volksschule, meine frühen Verkennungserlebnisse; Erinnerungen an den Lehrer Dr. Henning auf der Realschule; Notizbucheintrag zur Albert-Einstein-Relativitätsschule (Eintrag vom 30.11.2015 im Notizbuch 61]
Der vierte ist der aktuellste und greift Erfahrungen aus meiner beruflichen Tätigkeit auf. Das System der Integrations- und Berufssprachkurse entwickelt sich zunehmend zu einem Zwangssystem. Meine Abneigung, Menschen zu etwas verpflichten zu wollen, in diesem Fall das Lernen der deutschen Sprache. Das Nicht-Lernen wird mit Sanktionen verbunden. Befürworter der Verpflichtung begründen die Kurs-Teilnahme als geforderte Gegenleistung zum Transfer der finanziellen Unterstützung.
Hier müssen andere Essays mit weniger pädagogischen als politischen Themen eingeschoben werden. Über Grenzenlosigkeit, Auflösung der Nationalstaaten, Weltparlament und ein weltweit gezahltes bedingungsloses Grundeinkommen. [zum Teil gesammelt, wenn auch weitgehend nicht ausformuliert in: Immer zur Hand → Romane → Entwürfe und Kurztexte → Kleintexte → [Dateiname:] politisch-laterales_Denken.docx (vom 30.12.2016)]
[Die unterhalb dieses Notizbucheintrags vorgeschlagenen Teilabrissnummern müssen wegen Kollisionen mit anderen Texten geändert werden; letzte Idee: die Nummern 56–63 (dann müsste nur TA 58 verschoben werden)]
[Siehe auch den Eintrag vom 30.11.2015 im Notizbuch 61, in dem mir die Zusammenstellung von vier Texten zum Thema Schule vorschwebte:
– „Osterei zeichnen“ als 3. Teilabriss des Firwitz auf www.firwitz.de
– mein Verkennungserlebnis als Anti-Märchenerzähler im Kontrast zu meinem Klassenkameraden Jürgen Starki
– mein heute (30.11.2015) begonnener Text, der das Schulwesen revolutionieren soll und dessen Grundidee mir keinesfalls unrealistisch zu sein scheint, lediglich ungefähr zweihundert Jahre unserer Zeit voraus
– den Dr.-Henning-Text über den vielleicht einzigen Lehrer, der mich nicht verkannt hat – es schließen sich im Notizbuch 61 sechs Seiten zu Dr. Henning an]