072 – Schaulust, und was dahinter steckt. Aktaion, der klassische Voyeur

Wolfgang Cziesla: DER FIRWITZ – 72. Teilabriss

Schaulust – und was dahinter steckt

Aktaion, der klassische Voyeur

[Vortrag mit Abbildungen; eine stark gekürzte Fassung wurde abgedruckt in Mein heimliches Auge. Das Jahrbuch der Erotik XXV, Tübingen 2010, S. 115–121]

I.

Wir können uns Aktaion als einen zerrissenen Menschen vorstellen.

Wenn es einen Zusammenhang zwischen der Todesart und der Lebensweise eines Menschen gibt – und zumindest im Mythos oder in fiktionalen Texten gibt es ihn –, war der Enkel des Theben-Gründers Kadmos zeitlebens ein Zerrissener. Er teilt den Zerreißungstod mit zweien seiner Cousins, mit Pentheus und mit Dionysos. Mit dem wesentlichen Unterschied: Die Körper von Pentheus und Dionysos werden nach dem Tod wieder zusammengefügt.

Was hat den Jäger aus Theben zerrissen? Denn wir verstehen die Hunde als Zeichen für mächtigere Gewalten.

Im Bühnenbild von Euripides’ Drama „Hippolytos“ stehen sich die Statuen der Göttinnen Artemis und Aphrodite gegenüber, um die Gunst der Sterblichen rivalisierend. Im Eingangsmonolog fordert die Liebesgöttin, Aphrodite, unbedingte Gefolgschaft und rächt sich an denen, die – wie Hippolytos – als Jagdgefährten der Artemis ein keusches Leben führen wollen. Hippolytos, durch eine Intervention der Liebesgöttin von seinen Pferden zu Tode geschleift, stirbt ebenfalls einen Zerreißungstod, soll aber einer anderen Sage nach später unter dem Namen Virbius als erster Priester im Dianenheiligtum am Nemi-See wieder auftauchen.

Zwei Göttinnen: Aphrodite, die römische Venus, und Artemis, die römische Diana. Der private Bereich der Liebe zu einem Partner auf der einen Seite; Jagd, Hobby, Beruf, der öffentliche, gesellschaftliche Bereich auf der anderen. Erotik ist der Keuschheit gegenübergestellt. Liebe konkurriert mit Jagd. Freizeit und Muße stehen gegen Berufung – in diesem Spannungsfeld bewegt sich auch Aktaion. Doch anders als sein Cousin Pentheus, der in einer anderen Euripides-Tragödie – „Die Bakchen“ – von Dionysos berauscht, zwei Sonnen über Theben sieht, verliert Aktaion im Zwiespalt nicht die Orientierung. Seine Jagdleidenschaft ist eine einseitige Hingabe an Artemis und eine Vernach­lässigung ihrer Gegenspielerin Aphrodite. Dennoch zerrt der Einfluss der Liebesgöttin an ihm, besonders, wenn er genau dem Wesen gegenübersteht, das mehr als alle anderen seine eigene Lebensform verkörpert. Die Liebe zu seinem Beruf oder – wie es seiner Abstammung aus dem thebanischen Herrschaftshaus angemessen ist – zu dem sehr ernsthaft betriebenen Hobby ist eine Absage an die Liebe zu einer Sterblichen. „Ich hätte / mich in ein sterbliches Mädchen verlieben sollen“, klagt Aktaion in den Dionysiaka des Nonnos von Panopolis (5. Jh. n. Chr.), Doch andren / ließ ich die sterblichen Frauen und kurz nur währenden Ehen, / sehnte nach einer Unsterblichen mich.“

In diesem Sinne konnte Giordano Bruno, konnten auch andere Interpreten, den Voyeur, der uns auf den ersten Blick als Beispiel eines Wollüstigen erscheinen mag, als lustabgewandt, wenngleich nicht leidenschaftslos verstehen.

Seine Leidenschaft kann sich bis zur Sucht, bis zum Irrsinn steigern. Gemäß einer weltlicheren Deutung als der Giordano Brunos hat Aktaion sein gesamtes Vermögen für seine Hunde ausgegeben, und in diesem Sinne sei der Mythos zu deuten, demgemäß seine Hunde ihn verzehrten. Unter dem Pseudonym Kynophilos Actaeon erschien im 18. Jahrhundert ein Handbuch für Hundezüchter. In mittelalterlichen Emblemata-Büchern taucht Aktaion als Prototyp des Verschwenders auf, was auf eine sich verausgabende Sexualökonomie bezogen wurde.

Die Hunde sind für Aktaion aber nur Werkzeuge für das Wichtigere: die Jagd. Sie gewährt ihm einsame Genüsse, einsame Triumphe. So einseitig wie seine Begegnung mit Diana. Der Voyeur operiert aus einem Versteck heraus, seit der Entwicklung geschliffener Gläser auch mit Hilfe optischer Geräte. Der Jäger will „Mäuschen spielen“, oder, im Falle von Aktaion – Hirsch. Der Voyeur ist ein Geheimnisträger. Mag er auf seinem Gebiet noch so erfolgreich seinen Mann stehen – in einer wesentlichen Hinsicht ist er unsozial.

Sein Blick will keine Antwort. Ein gegenseitiger Blickwechsel würde ihn ertappen. In einem solchen Fall müsste er sich beeilen, seine Haltung zu korrigieren, müsste er sich in seiner Identität als Voyeur verleugnen. Aktaion, von der Göttin entdeckt, verwandelt sich in einen Hirsch, ein der Göttin nahestehendes Tier. Will er sich einschmeicheln? Diana, von einem Hirsch begleitet oder auf einem Hirsch reitend ist ein von der Antike bis ins Kunsthandwerk des Rokoko und des Biedermeier beliebtes Bildmotiv. Die Eigenschaften des Hirschs sind Attribute der Jagdgöttin – Schnelligkeit, Schlankheit, Zurückgezogenheit.

Aktaion im Hirschfell – versteckt in einer fremden Haut, gerät er in Widerspruch zumit seinen ureigensten Leidenschaften, die egoistisch sind.

 

II.

Es griffe aber zu kurz, den Zustand des Zerrissenseins allein mit dem profanen Konflikt zwischen forderndem Ehrgeiz und häuslicher Wärme zu begründen. Er hat – und hatte in der Antike mehr als heute – eine sakrale Dimension. Der Zerstückelungstod gründet in einer Praxis, die uns – nicht zuletzt dank der Arbeiten Mircea Eliades – global unter dem Begriff Schamanismus bekannt ist. Die Abläufe – der zu Initiierende erlebt die Fragmentierung seines Körpers, die neue Zusammensetzung seiner Teile und seine Wiedergeburt als ein anderer – gingen in einer frühen Phase auch mit dem Dionysoskult einher. Als Rauschmittel wurde nicht nur Wein benutzt. In diesem Kontext erscheint Aktaion als ein Beispiel für eine gescheiterte Initiation.

Euripides beschreibt in den „Bakchen“ (Bakchos, ein anderer Name für Dionysos), wie Pentheus als Vertreter der alten Ordnung den Kult der emporstrebenden Gottheit Dionysos auszuspionieren versucht. Vom unerkannten Dionysos verführt, legt Pentheus sich nach Art der Anhänger des Kults ein Hirschfell um. Kadmos, gemeinsamer Großvater von Pentheus und Aktaion, hält ihm das Beispiel des Aktaion warnend vor Augen. Mit einem lediglich umgehängten Fell, also ohne eine körperliche Verwandlung in einen Hirsch, erscheint Aktaion auch in der Literatur, etwa bei Stesichoros (ca. 630-556 v. Chr.), Pausanias u.a.. Eine attische Amphore in der gegenwärtigen Ausstellung im museum kunst palast zeigt Aktaion mit menschlichem Körper und umgehängtem Hirschfell.

Aktaions Nähe zum Dionysoskult liegt aber auch aus einem anderen Grund nahe. Einer der ältesten Quellen (Hesiods Eoien) gemäß, warb Aktaion um Semele, die Mutter des Dionysos, und rivalisierte mit Zeus, der mit Semele letztlich Dionysos zeugte. Aktaions Werben um Semeles Gunst ist sein Verlangen, zu der Stelle vorzudringen, an der Dionysos entstanden ist. Pausanias und andere Autoren sehen in Aktaions Anmaßung, mit Zeus konkurrieren zu wollen, den eigentlichen Grund seiner grausamen Bestrafung.

Sich mit dem höchsten Olympier gleichzusetzen, das weist erneut auf einen berauschten, inspirierten Zustand hin. So ist es nur konsequent, dass Aktaion auch in dem antiken Roman auftaucht, der von Magie, der Anwendung von Zaubermitteln und der daraus resultierenden Verwandlung eines Menschen in ein Tier handelt: Im lateinischen Original heißt der Roman Metamorphoses libri, wurde aber unter dem Titel Asinus aureus (Der goldene Esel) bekannt. Dessen Held Lucius, der den Vornamen des Verfassers Apuleius trägt, hat ebenso wie Pentheus eine Warnung nicht beachtet, als er angesichts einer marmornen Diana-Actaeon-Gruppe die Worte seiner Gastgeberin Tua sunt cuncta quae vides („Alles was du siehst ist dein Eigen“) lediglich in einem trivialen Sinne der Gastfreundschaft auffasst, nicht aber, dass sich in Aktaion sein eigenes Schicksal spiegelt. Lucius jedoch wird durch die Anwendung seines Zaubermittels nicht wie Aktaion in einen Hirsch, sondern in einen Esel verwandelt. Shakespeare wird dieses Motiv in seinem Sommernachtstraum aufgreifen. Der spätrömische Lucius aus Apuleius’ Eselsroman, der mit Hexensalben und anderen Zaubermitteln experimentiert, ist ein Vorgänger des frühneuzeitlichen Dr. Faustus. Christopher Marlowe – ein Zeitgenosse Shakespeares – bringt in seiner Tragicall History of the Life and Death of Doctor Faustus, einem 1589 uraufgeführten Theaterstück, die Eselsohren des Lucius mit dem Hirschgeweih des Aktaion zusammen:

„Wenn wir ihm [Faust] folgen wollten, uns zu rächen, / So fügt’ er zum Geweih noch Eselsohren / und macht’ uns zum Gelächter aller Welt“ –

sagt der Edelmann Benvolio, der zuvor gespottet hatte, Aktäon sein und sich in einen Hirsch verwandeln zu wollen, falls es Doktor Faustus tatsächlich gelänge, Alexander den Großen am Hofe des deutschen Kaisers erscheinen zu lassen. Faust macht beides wahr, den Auftritt des antiken Feldherrn in der Gegenwart und das Hirschgeweih auf Benvolios Kopf.

Wie eng der Zusammenhang zwischen dem Aktaion-Mythos und dem Faust-Stoff ist, macht Ernst Jünger deutlich, der einen Passus über die Einnahme bewusstseinserweiternder Mittel „in Fausts Kabinett“ ansiedelt. Aktaion gehört demnach – anders als sein Lehrmeister Cheiron (Chiron) – zu den Zauberlehrlingen, denen es nicht gelungen war, die herbeibeschworenen Geister zu bändigen. „Das berührt die Aufgabe des Künstlers, des musischen Menschen, des Wissenden in Zeiten, in denen die Hunde ledig geworden sind.“ (Annäherungen, §279, S. 307) Aktaion erscheint als das antike Beispiel eines Drogentoten.

 

III.

„Historia von D. Johann Fausten / dem weitbeschreyten Zauberer / und Schwarzkünstler / … / allen hochtragenden, fürwitzigen und gottlosen Menschen zum schrecklichen Beispiel …“ heißt es auf der Titelseite des „Volksbuchs“ vom Faust (1587), das in der englischen Übersetzung von 1588 Christopher Marlowe als Vorlage für sein Theaterstück des Doctor Faustus gedient hatte. „Dann sein Fürwitz, Freiheit und Leichtfertigkeit stach und reizte ihn also, daß er auf eine Zeit etliche zauberische vocabula, figuras, characteres und conjurationes, damit er den Teufel vor sich möchte fordern, ins Werk zu setzen und zu probieren ihm vornahm“ (S. 8), berichtet das Volksbuch über den Doktor und Magicus. Oder in einem anderen Kapitel: „Bald sticht ihn der Fürwitz, fordert seinen Geist Mephostophilem, mit dem wollte er ein Gespräch halten“ (S. 22). Nach der Vorrede des Buchdruckers Johann Spies ist der Fürwitz „eine gewisse Ursach [.] des Abfalls von Gott“ (S. 4). Schon über Eva, die in den Apfel vom Baum der Erkenntnis beißt, hieß es in der Millstätter Genesis, entstanden um 1200: „si folget ir bosen furwitz und tët dar in einen biz“ (14, 12).

„Fürwitz“ oder „Vorwitz“, das ist die Übersetzung des lateinischen Begriffs „curiositas“, wie er bei den Kirchenvätern im Katalog der Laster erscheint. Augustinus (354 – 430) platziert die curiositas neben die superbia (Hochmut) und die concupiscentia (heftiges Verlangen, Begierde, die Neigung des Menschen zum Bösen oder zur Sünde) [Confessiones (X, 35)]. Bei Tertullian, einem weiteren christlichen Autor in lateinischer Sprache (ca. 150 – 230 n. Chr.), erscheint curiositas als das Gegenteil von fides, der Rechtgläubigkeit. Fürs Mittelalter galt: Man musste nicht alles sehen wollen, was man glauben konnte. Im Ersten Korintherbrief (I, 20) schreibt Apostel Paulus: „Vorwitz ist es, die Ratschlüsse Gottes ergründen zu wollen.“

Auch wenn wir uns durch diesen Exkurs ins Christentum von dem griechischen Mythos anscheinend entfernt haben, sind wir bei dem Thema, die göttliche Natur ergründen zu wollen, doch direkt bei Aktaion. Aktaion ist in der Antike und im Mittelalter ein oft zitiertes Beispiel für den Vorwitz, die curiositas. Stets geht es dabei um eine verbotene (wir sind beim Titel der Ausstellung) Herangehensweise an ein Wissen, das einem Menschen nicht zugedacht war. Der spätantike lateinische Autor Fulgentius (6. Jh.) leitet in seiner Mythographie (Mitologiarum libri tres) den Actaeon-Eintrag mit dem Wort „curiositas“ ein – eine Verbindung, die um 400 n. Chr. bereits Arnobius der Ältere herstellte. Noch der englische Philosoph Francis Bacon (1561 – 1626) vergleicht in seiner 1609 auf Latein erschienenen, damals sehr verbreiteten Interpretation antiker Mythen De Sapientia Veterum das Schicksal Aktaions mit dem des Pentheus unter der Überschrift „Actaeon et Pentheus, sive Curiosus“.

 

IV.

Aktaion gehört dem griechischen Kulturkreis an, und ein griechisches Wort für curiositas oder Vorwitz isheißt polypragmosýne, wörtlich genommen Vielgeschäftigkeit. Passows Hand-Wörterbuch der Griechischen Sprache gibt an: „viele oder vielerley Geschäfte und Händel neben einander haben, treiben, betreiben oder suchen, vielerley unternehmen, dah. viel zu thun haben, sehr beschäftigt seyn: gew. in tadelndem Sinne, sich in vielerley Dinge oder Angelegenheiten mengen, die einen nichts angehn, sich mit anderer Leute Angelegenheiten zu schaffen machen, neugierig od. vorwitzig seyn.“ Auf der anderen Seite, mit positiver Wertung: „wissbegierig seyn, genau od. sorgfältig wonach forschen.“

Wir können uns Aktaion als einen vielbeschäftigten Mann vorstellen. Aber auch als einen Menschen mit dem Drang, sich in Dinge und Themen einzumischen, die nicht seiner ihm von den ordnenden Mächten zugedachten Aufgabe entsprechen. Das Verlassen seines zugewiesenen Orts, das die polypragmosýne beinhaltet, kann zunächst räumlich verstanden werden: Als Jäger überschreitet Aktaion die Grenzen seines Reviers und dringt am Berg Kithairon in den heiligen Bereich ein, den die Göttin für sich und ihre Nymphen reserviert hat.

In Platons „Staat“ ist darüber hinaus der Ort im System gemeint, der für einen Menschen vorgesehene Platz in der Gesellschaft, der durch seine polypragmosýne verlassen wird. Da für Platon der Staat wie der menschliche Körper ein in sich stimmiges, gerechtes Gebilde ist, würde ein Mensch, der nicht seine ureigensten, für ihn vorgesehenen Dinge erledigt (Platon nennt als Beispiel einen Handwerker, der sich in die Politik einmischt), Ungerechtigkeit schaffen.

Als eine politisch zu verstehende Warnung, die verborgensten Angelegenheiten der Herrschenden aufzudecken, kann Plutarchs Schrift Perì polypragmosýnes (De curiositate) gelesen werden. Schon im alttestamentarischen Buch Jesus Sirach II, 24 (ca. 180 v. Chr.) hieß es (in der Übersetzung Martin Luthers): „Vnd was deines Ampts nicht ist / da las deinen furwitz“.

Der französische Philosoph Jacques Rancière bewertet dieselbe Eigenschaft im gegenteiligen – positiven – Sinn, sieht im Verlassen des uns vorbestimmten Orts, in der von Platon als ungerecht und geradezu als krank bewerteten Vielgeschäftigkeit, die Basis für politisches Handeln: Sich einmischen in etwas, was nicht unsere ureigenste Sache ist. Der Platz, um sich Gehör zu verschaffen, müsse sich erstritten werden. Aristoteles unterschied zwischen Bürgern, die über Sprache (logos) verfügten, und Unfreien, welche sich lediglich ihrer phonè bedienen konnten, was man mit Stimme (aber nicht im politischen Sinn), mit Lärm, mit unartikuliertem Hintergrundrauschen übersetzen kann. Für Jacques Rancière ist die polypragmosýne, die Vielgeschäftigkeit, das Instrument, durch Sprache ins öffentliche Bewusstsein zu gelangen. Politik ist der Kampf um die Modalitäten der Verständigung.

 

V.

Aktaion verliert seine Sprache, seinen logos, als er der Göttin gegenüber steht. Ihrem sarkastischen Nunc tibi me posito visam velamine narres / Si poteris narrare, licet (Nun erzähle, du habest mich ohne Umhüllung gesehen, wenn du es noch zu erzählen vermagst! Ovid Metamorphosen, III, 192f)) folgt seinerseits nur ein heiseres Röhren, bevor ihn die Hunde zerfressen.

Seine Sprachlosigkeit entspricht der Lust des Augenmenschen. Nur sehen und staunen, nichts sagen. Das Abenteuer der Jagd korreliert mit einer Unsicherheit im Sozialen, besonders gegenüber der Frau. Wir können uns Aktaion als einen schüchternen Mann vorstellen. Der Voyeur ist ein Kommunikationsverweigerer.

Voyeure gehen oft ein erstaunliches Risiko ein, waghalsige Klettereien (auch Aktaion steigt auf manchen der literarischen und bildlichen Darstellungen auf einen Baum), verrenkungsvolles Ausharren in engen Schlupfwinkeln, phantasievolle Tarnungen, Wildern in fremden Revieren. Dabei stets die Gefahr, als Spion enttarnt zu werden. Die Aktaion-Geschichte hat etwas von einem Agenten-Thriller, geht es doch darum, hoheitliche Geheimnisse in Erfahrung zu bringen. In diesem Sinne kommentiert der englischen Philosoph Francis Bacon den Mythos mit politischen Anspielungen auf seine Zeit.

Der Voyeur ist seinem Wesen nach ein Abenteurer. Dabei tritt er dem Objekt seiner Observanz aber nicht offen gegenüber. Er operiert aus dem Versteck, dem Hinterhalt.

Existenzielles Draufgängertum, gepaart mit sozialer Feigheit. Die literarischen Beschreibungen und Bilder zeigen seine beiden Seiten. Er ist der vorwitzige Eindringling, der in verborgene Bereiche vorstößt. Sobald sich aber das weibliche Wesen ihm zuwendet, wird seine Furchtsamkeit deutlich, seine soziale Scheu, verbildlicht im flüchtenden Hirsch.

Der Aktaion-Mythos zeigt, wie der weibliche Körper allein durch seine Schönheit Ehrfurcht, sogar Furcht, einflößt. Dabei handelt es sich um mehr als nur um den durch Exhibitionismus ausgelösten Schrecken (was ja auch Männern möglich wäre). Mehr als ein Beispiel von public flashing zu sein, wird mit dem Anblick zugleich an das Gesetz erinnert, dass die Frau über den Körper – den Zugang zu ihm – gebietet. Die Macht, ihre Gunst willkürlich verteilen zu können, macht jede Frau zur Herrscherin und potenziell zur Göttin. Eine Ungeheuerlichkeit, mit der sich der Mann abzufinden hat. Das ist besonders ein Problem für jene Männer, die sich zum sexuell abgehängten Prekariat zählen. Wir müssen uns Aktaion – obwohl immer wieder vom antiken „Helden“ die Rede ist – nicht unbedingt als ein Alpha-Männchen vorstellen.

 

VI.

Damit sind wir auch schon bei den Spielverderberinnen, die ebenfalls in der Ausstellung im museum kunst palast zu sehen sind. Bilder der Ausstellung – pictures of exhibitionists. Das ostentativ entkleidete Geschlecht ist eine feministische Waffe gegen männliche Zudringlichkeit. Die Abwehr des Jägers besteht darin, ihn zu verjagen. Exhibitionismus ist der Feind des Voyeurismus, nicht sein Komplement – so wie etwa Sadismus und Masochismus oft als Paar angesehen werden. Doch auch für diese Allianz ist der alte Witz weiterhin aussagekräftig: Fleht der Masochist den Sadisten an: „Bitte, quäle mich!“, antwortet der Sadist genüsslich: „Nein“. Während sich ein Sadist dennoch kompromissbereit dem Masochisten zuwenden mag, um im Rahmen von Legalität und Freiwilligkeit zu bleiben, empfindet der Voyeur die allzu vorzeigefreudigen Frauen als einen Affront gegen die von Männern aufgestellten Spielregeln. Eine Entzauberung des vergötterten Organs des origine du monde, wie ein bekanntes Gemälde Courbets heißt, durch anatomische Detailtreue.

Voyeure sind keine Betrachter von Pornoheften und haben meistens kein ausgeprägtes gynäkologisches Interesse. Die Höhepunkte einer Voyeurlaufbahn spielen sich in freier Wildbahn ab. Was der Voyeur sucht, sind die Bekleidungsunfälle, ein unbemerkt verrutschter Rocksaum, eine günstige Perspektive.

Die Modefotografie verhält sich wie ein literarisches Werk. Sie lässt das Eigentliche unausgesprochen, unausgeleuchtet, oder schneidet es ab. Am vermuteten Hauptzweck des Betrachtens immer knapp vorbei. Die Kamera müsste einen nur leicht verschobenen Standpunkt einnehmen, die Ausleuchtung nur ein paar Zentimeter weiter ins Dunkel vordringen, das Kleidungsstück etwas mehr in die eine oder andere Richtung verrutscht oder der Körper leicht gedreht sein – und sichtbar würde jenes Zuviel, das die Arbeit der Phantasie verhindert.

 

VII.

Warum sind Männer so? Warum wollen sie immerzu die bestverhüllten Körperteile der Frauen ergründen?

Möglich, dass die Antwort vielen von Ihnen als selbstverständlich erscheint. Gut möglich auch, dass einige dieser sozial unverträglichen Frage nur allzu gern ausweichen. Frauen, weil sie an die Belästigungen des permanenten Angegafftwerdens nicht erinnert werden möchten; Männer, weil es ihnen genügt, wie sich gutmeinende E-Post-Autoren um ihre sexuelle Leistungsfähigkeit sorgen.

Das rätselhafte Phänomen allein mit Augenlust zu erklären, hieße, sich auf die Frage, warum jemand eine Mahlzeit zu sich nimmt, mit der Antwort „Weil ich Appetit habe“ zu begnügen. Sie verschweigt – oder setzt als selbstverständlich voraus –, was geschähe, wenn jemand keinen Appetit entwickelte, wenn er keine Nahrung zu sich nähme. Auf dieses Überlebensnotwendige möchte ich die männliche Schaulust zurückführen und schlage als Überlegung vor:

Die starrenden, gaffenden Männer tun das für ihre Kinder. Und zwar für die noch Ungezeugten.

Zur Illustration wechsle ich den Blickwinkel und führe Sie an den Rand der Sahel-Zone, nach Mali, zum Volk der Dogon.

Tagsüber, beim Ernten der Fingerhirse – eine Aufgabe, die sich erwachsene Männer und Frauen teilen – so berichtet der Ethnologe Marcel Griaule, „werden zwischen den Geschlechtern Lieder von ungewöhnlicher Schamlosigkeit ausgetauscht“ (S. 160). Nach Sonnenuntergang beginnt das Dreschen der Körner, das von den Knaben und Mädchen des Wohnviertels vorgenommen wird.

„Sie [die Jugendlichen] begleiten sich dabei mit allerlei Liedern, die an die obszönen Gesänge erinnern, die bei Tag die erwachsenen Männer und Frauen bei der gemeinsamen Ernte gesungen haben. Von Zeit zu Zeit treten zwei Knaben zurück, um eines der Mädchen, die sich hinzugesellen, in den Kreis treten zu lassen. Die Schläge auf das Stroh und die Gesänge haben das gleiche Ziel.“ (S.164)

Griaules einheimischer Gewährsmann erläutert. „Sie geben etwas, als erzeugten sie Kinder. Obwohl sie in der Nacht stattfinden, üben sie auf die Gebärmütter die gleichen segensreichen Wirkungen aus wie die Worte des Tages.“

Griaule schließt das Kapitel. „So waren die Frauen, solange das Dreschen dauerte, in eine zeugungsgünstige Atmosphäre getaucht, und alle jungen Männer und jungen Mädchen, die Hoffnung der Gesellschaft, mußten zu dieser Arbeit und zu diesen Gesängen ihren Beitrag leisten und daraus die Kraft zu ihren künftigen Liebschaften schöpfen. Und die Strafe, die sie traf, wenn sie sich entzogen, zielte weniger auf den Verlust an Arbeitskraft als auf das Versäumnis, an der gemeinsamen Belebung der Zeugungskräfte teilzuhaben.“ (S. 166)

An dem von Marcel Griaule festgehaltenen Weltbild der Dogon ist viel Kritik geübt worden, unter anderem von Michel Leiris, der an Griaules Expedition teilgenommen hatte. Vor allem der Diebstahl der Masken, die heute im Musée d’Orsay ausgestellt sind, ist unverzeihlich.

Aber selbst wenn Griaules Schlussfolgerungen auf Missverständnissen beruhten, selbst wenn seine Erklärung für die Gesänge beim Ernten und Dreschen der Fingerhirse pure Erfindung wäre, ließe sich – auch für monogame Gesellschaftsformen – daran zeigen, wie die Aufrechterhaltung der Fruchtbarkeit als eine kollektive Pflicht aufgefasst werden kann.

Auch in unseren westlichen Industrienationen werkelt im Verborgenen die Evolution (darauf darf man zum 200sten Geburtstag Charles Darwins hinweisen). Die erotischen Gesänge der Frauen, die nicht nur akustisch zu uns Männern herüberkommen, sondern als ein vielstimmiges Geflecht aus geheimnisvoller Rede, betörenden Aromen, Kleidern, Röcken, Blusen, die Wesentliches ahnen lassen, Unklarheiten, die einen Mann zu ungeahnten Hormonausstößen provozieren – eine Symphonie aus Fruchtbarkeitsritualen, in welchen Frauen und Männer die ihnen durch ihr genetisches Programm zugewiesenen Aufgaben erfüllen. Was wären Männer, die einen Blick riskieren, anderes als Agenten im Dienst ihrer Majestät, der Evolution? So geheim, dass sie oft selbst nichts von ihrem Auftrag ahnen, wenn sie auf ein weibliches Wesen treffen, von dem bis zuletzt unklar bleibt, ob es auf derselben Seite kämpft, oder auf der gegnerischen.

Für wen setzt sich eine Frau der Gefahr aus, dass ihr Rocksaum in ungewollte Höhen oder ihr Dekolletee in die Tiefe rutscht? Nicht für einen Unwürdigen. Das erklärt nicht nur, warum der Blick verboten ist, vielmehr: wem er verboten ist. Droht das, was der Blick einleiten könnte, die Veredelung des Erbguts zu untergraben, reagiert die Frau, die Göttin, die Gesellschaft mit einem Verbot.

Das stellt die Frage nach Aktaions Herkunft und nach dem, was er zu bieten hatte. Es ist aber nicht nur ein Thema für Männer mit stotterndem Motor. In jeder Lebensphase lässt sich die Qualität des Samenträgers optimieren. Schließlich dient dieser evolutionäre Schachzug nicht nur den Kindern, sondern auch den Frauen, die möglichst optimale Kinder haben möchten.

„An Schönheiten bleibt der Blick kleben“ – unter dieser Überschrift berichtete DER SPIEGEL im September 2007 von einer Studie der Florida State University, die zum Ergebnis gelangte, dass besonders solche Menschen nur widerstrebend ihren Blick von attraktiven Menschen des anderen Geschlechts losreißen können, die eine „uneingeschränkte Paarungsstrategie“ verfolgen. Bei Laborversuchen mit Bildern attraktiver Menschen „widmeten Frauen den Männern ebenso viel Aufmerksamkeit wie Männer den Frauen.“

Obwohl gemeinhin als Devianz (Abweichung von der Norm) angesehen, ist Voyeurismus kein Minderheitenthema. In einer kanadischen Studie gaben 70 Prozent der befragten Männer an, sie würden sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, anderen Menschen beim Ausziehen oder beim Sex zuzuschauen. Selbst mit einem Risiko von 1:4, beim heimlichen Spähen entdeckt zu werden, erklärten noch 60 Prozent, das Risiko eingehen zu wollen.

Unter den Frauen – bislang weniger im Ruf, heimliche Freude an beobachteter Nacktheit zu genießen – waren es immerhin 40 Prozent, welche diese Neigung eingestanden, und 35 Prozent unter dem genannten Risiko des Entdecktwerdens.

Die Autoren der Studie erklärten die geringere voyeuristische Aktivität bei Frauen mit größerer Empathie gegenüber den Opfern solcher Blicküberfälle. In stärkerem Maße begehrenden Blicken ausgesetzt, hätten sie mehr Skrupel, Mitmenschen zu ahnungslosen Objekten des Begehrens zu degradieren. Aber sind die Frauen als Immerkönnerinnen nicht ohnehin auf die fortgesetzte Stimulation weniger angewiesen als Männer?

Dabei legte die genannte Studie nur die unumstrittenen Formen des Voyeurismus zugrunde: Den Blick auf die unverhüllte Scham oder die Zeugenschaft einer Paarung. Nicht gezählt werden alle die sich durch Kleidung brennenden Blicke, das Stieren auf sich durch den Stoff abzeichnende Körperformen bis hin zur nicht mehr messbaren Arbeit der Phantasie.

Ist Voyeurismus eine kollektive Krankheit? Auch wenn Voyeurismus im weltweit gültigen Diagnoseklassifikationssystem der Medizin, dem ICD-10 (International Classification of Diseases) und ebenso im Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-IV) aufgelistet ist, tritt er in den wenigsten Fällen als behandlungsbedürf­tige Para­philie auf. Erst wenn – so die Definition – die Neigung über mehr als sechs Monate hinweg zu erheblichem Leidensdruck beim Voyeur oder seinen Mitmenschen führt, wird Therapiebedarf festgestellt.

 

VIII.

Mit dem Hinweis auf das im Hintergrund ablaufende Programm der Evolution möchte ich keineswegs der Hemmungslosigkeit das Wort reden. Manieren sind nicht umsonst erfunden worden. Aus dem gesellschaftlich formvollendeten älteren Frankreich wird kolportiert, wie sich bei einer privaten Einladung ein Gast auf der Suche nach der Toilette in den hinteren Gemächern verirrt und die Dame des Hauses beim Ankleiden antrifft. Er sagt, „Pardon, Monsieur!“ und entfernt sich.

Ein solch chevalereskes Benehmen hätte Aktaion vielleicht das Leben retten können. Wir bewegen uns auf dem unsicheren Boden von Takt und Anstand. Adolph Freiherr von Knigge gibt in seinem Standardwerk Über den Umgang mit Menschen keine Auskünfte zum Voyeurismus, wohl aber zur angemessenen und unangemessenen Bekleidung (und gibt damit den schwarzen Peter an die Frauen zurück).

Dem Voyeur können gesittete Umgangsformen durchaus in guter Kinderstube vermittelt worden sein. Aus Rebellion, Egoismus, Suchtverhalten, verzweifelter Einsamkeit oder (wie ausgeführt) zur Optimierung des Erbguts setzt er sich über die Regeln des Anstands hinweg, begeht gezielt Taktlosigkeiten.

Das Hingucken wird in Deutschland nicht als Kavaliersdelikt eingestuft. Kavaliere schauen weg. Für die Rechtsprechung in Deutschland hat das bloße Schauen keine Relevanz. Unter den Verbrechen gegen die sexuelle Selbstbestimmung wird Voyeurismus in den Kriminalstatistiken nicht gesondert ausgewiesen. Es sei denn, zugleich würde nach § 201a StGB das Recht der Wohnung verletzt. Dieses gilt auch bei einem „gegen Einsicht besonders geschützten Raum“, für den man die Höhle aus Ovids Metamorphosen, in der sich Diana und ihre Nymphengesellschaft tummeln, ansehen kann.

Häufiger aber wird im Zusammenhang mit Voyeurismus die Verletzung des Rechts am eigenen Bilde nach dem § 22 des Kunsturheberrechts geahndet. Diana, die Aktaion überverhältnismäßig hart bestrafte, dürfte mit der Vergabe von Bildlizenzen nicht sehr freigiebig sein. Maler, Ausstellungsmacher, Vortragende haben eine hohe Rechnung aus dem Olymp zu gewärtigen.

Letztlich liegt es im Ermessen der Frau, welchen Blick sie als zudringlich empfindet und welchen sie herausfordernd erwidert.

If Acteon did right or wrong

Let all faire virgins judge,

heißt es am Ende eines anonymen Gedichts aus elisabethanischer Zeit.

Gerade die Hoheit der Frau will der Voyeur nicht anerkennen, oder aber er sucht bevorzugt hochgestellte Persönlichkeiten, um sie zu deklassieren. Weit davon entfernt, sich wie ein Gentleman zu verhalten, wird er zum Räuber von Anblicken. Er kompromittiert sein gegenüber, stellt es bloß. Zeigen und Sehen werden zu einem Machtspiel. Einer Frage der Über- und Unterordnung. Logisch, dass sich die Göttin das nicht gefallen lässt.

 

IX.

Was, wenn Artemis zu Unrecht im Ruf der Keuschheit stünde?

Hans Peter Duerr weist in Traumzeit, seinem Buch über „die Grenze von Wildnis und Zivilisation“, auf die Bedeutung des Worts „Parthenos“ hin. Üblicherweise das Beiwort zur Pallas Athene, wurde „Parthenos“ auch auf Artemis angewandt. Von Artemis, der „unbezwungenen Jungfrau“, ist in der Odyssee die Rede. Wie Hans Peter Duerr erläutert, war „Parthenos“ zumindest bei Pindar oder Vergil nicht die „Jungfrau“ im heutigen Verständnis, sondern die Bezeichnung für diejenigen Frauen, die keinem Mann untertan waren. In Sparta hießen die Konkubinen Parthenoi und ihre Nachkommen Partheniai.

Im Ruf des Konkubinats steht Artemis freilich nicht. Jedoch beweist ihre Unzugänglichkeit Männern gegenüber keineswegs ihre Keuschheit. War die Göttin der Männerwelt nicht zugetan – so ein lang anhaltender Kurzschluss vieler Generationen von Mythographen – war sie jeglicher Lust abhold. Was aber, wenn sich Artemis intensiv ihrer Lust hingab, nur eben mit Frauen? Das wäre im Fall von Artemis keine unbegründete Lesart von „Parthenos“. Sie war von keinem Mann abhängig. Die Beispiele von Frauenpaaren in der Ausstellung im museum kunst palast knüpfen an diese Überlegung an.

Verborgen im Wald lebt sie – was zahlreiche Bilder in unterschiedlicher Deutlichkeit illustrieren – mit ihren Nymphen ein Gegenmodell zu der von Zeus dominierten Göttergesellschaft. Mit ihrer sexuellen Neigung ist sie im frivol-heiteren Olymp eine Außenseiterin. Göttinnen und Götter, allen voran Zeus, leben promiskuitiv. Artemis möglicherweise auch, aber in einem ihren Gespielinnen vorbehaltenen Schutzraum, in den selbst die Olympier keinen Einblick haben. Artemis verwirklicht sich in einer gesellschaftlichen Randexistenz, gliedert

sich in den kollektiven Reproduktionsprozess nicht ein. In der Genealogie der griechischen Götter bildet sie durch ihren Verzicht auf Nachkommenschaft eine Ausnahme.

Ihre Geheimgesellschaft ist subversiv – nicht unbedingt in einem explizit politischen Sinne, wie der Philosoph Francis Bacon in seinem Werk De sapientia veterum (1609) den Mythos ausdeutet. Aber in einer konspirativen Kapsel, die nur den von ihr persönlich ausgewählten Gefährtinnen zugänglich ist. Ihrer homoerotischen Einbettung in einer Frauengemeinschaft verdankt sie ihre Unabhängigkeit von Männern, ihre Überheblichkeit, die sie auch Aktaion gegenüber ausspielt.

In der Umgebung, in der Aktaion die Göttin antrifft, ist sie eine gänzlich andere als die, wofür ihr Name steht: Keuschheit, Ernsthaftigkeit, unnachgiebige Strenge. In diesem locus amoenus scherzt und spielt sie mit den Nymphen, und manche Barockdichter wie Giambattista Marino malen metaphernreich aus, wie weit die schwesterliche Liebe ging. Aktaions Entdeckung zwingt sie, sich zu outen. Noch neckisch aus dem Spiel heraus und mangels anderer Waffen bespritzt sie ihn mit Wasser, jedoch mit vernichtender Wirkung. Ihr Image steht auf dem Spiel.

 

X.

Wie ist es möglich, dass Aktaion, der nie einen legitimen Anspruch auf die Jagdgöttin erheben durfte, später zum Prototyp des gehörnten Ehemanns avancierte? Als solcher taucht er beispielsweise in verschiedenen Shakespeare-Stücken auf, so in The Merry Wives of Windsor u.a. Ähnliche Anspielungen auf den Aktaion-Mythos, wenn es um betrogene Ehemänner geht, finden und auch bei Shakespeares Zeitgenossen, nicht nur auf der Insel. Gab es zwischen Aktaion und der Jagdgöttin ein engeres Band als die Ovids Darstellung es vermuten lässt?

In den Albaner Bergen nahe Roms liegt der Lago di Nemi. In früheren Zeiten hatte er den Beinamen Speculum Dianae, und noch immer ist er in Italien als Specchio di Diana bekannt. In ihm spiegelte sich der Hain der Jagdgöttin. An den Ufern des Sees wohnte der Rex Nemensis, ein entlaufener Sklave. Er lebte in Hierogamie mit Diana. Wie hat man sich die Ehe zwischen einem Sterblichen und einer Göttin vorzustellen? Begehrte er wie Pygmalion ein steinernes Abbild? Wohnten Tempelprostituierte als Stellvertreterinnen der Gottheit im Heiligtum? Waren Mensch und Gott durch eine unio mystica verbunden, so wie mittelalterliche Nonnen den Gottessohn als Bräutigam erwählt hatten?

Wie auch immer – der entlaufene Sklave war frei und genoss ein hohes Ansehen. Seine Freiheit verdankte er einem Totschlag. Er hatte seinen Vorgänger, den früheren König des Nemi-Sees, töten müssen. Geachtet, nicht länger geächtet, lebte fortan der einstige Sklave, befreit, aber in ständiger Furcht. Wem es gelang, einen Zweig des von ihm bewachten heiligen Baums zu brechen, durfte ihn zum Kampf auf Leben und Tod herausfordern. Siegte der Herausforderer – meistens ebenfalls ein entlaufener Sklave wie er selbst – konnte dieser seinen Platz einnehmen. James G. Frazer nimmt die Szene zum Ausgangspunkt seines epochalen Werks The Golden Bough.

Furchtsamkeit ist die Eigenschaft des Hirschs, wie seit Anaximenes und vor allem in den allegorischen Ausdeutungen des Aktaion-Mythos im Spätmittelalter und in der Frührenaissance immer wieder betont wird. Getötet von Hunden oder von Sklaven – was machte das in der Antike für einen Unterschied? Auch Dion, der Kyniker, vergleicht einen Herrn, der von seinen Untergebenen in Aufregung versetzt wird, mit Aktaion, den seine Hunde verzehren.

 

XI.

War Aktaion überhaupt ein Voyeur?

Die Literaturgeschichte diskutiert ausführlich die Frage nach der Schuld oder Nicht-Schuld in seinem Verhalten. Nach Ovid stieß Aktaion zu seiner eigenen Überraschung auf den Schauplatz mit der badenden Göttin und ihren Nymphen. Bestand seine Schuld in der Faszination, die ihn nicht weitergehen und sein unverhofftes Glück länger als nötig auskosten ließ? Nach den Versionen des spätantiken Nonnos und einigen seiner frühantiken Quellen ist Aktaion auf einen Baum geklettert, um mehr von der Jagdgöttin erspähen zu können, deren Körper von den Nymphen verdeckt war. Hyginus unterstellt ihm gar eine Vergewaltigungsabsicht, was bei der Überzahl an Nymphen als schwer durchführbar erscheint.

Wollte sich das christliche Mittelalter, das bis spät in die Neuzeit hineinwirkte, an heidnischen Mythenstoffen erfreuen, musste dem antiken Autor eine moralische Absicht und den Geschichten ein christlicher Hintersinn unterstellt werden. Es entstanden Werke wie zu Beginn des 14. Jahrhunderts der Ovide moralisée und der Ovidius moralizatus des Pierre Bersuire (Berchosius) von 1342, das Fürsten-Erziehungsbuch der Chistine de Pisan Les cent histoires de Troye (um 1400) sowie Emblemtata-Bücher, die unterhalb der Holzschnitte mit mythologischen Szenen belehrende Epigramme wiedergaben.

Aktaion moralisch zu rechtfertigen wäre aber gerade für Ovids Darstellung des Mythos überflüssig, hatte Ovid Aktaion doch keinerlei schuldhaftes Verhalten unterstellt.

In den Tristia, geschrieben aus seiner Verbannung am Schwarzen Meer, vergleicht sich Ovid mit Aktaion. Ein unverschuldeter Fehltritt habe dazu geführt, dass er, Ovid, in Ungnade fiel. Bei Aktaion ein schuldhaftes Verhalten anzunehmen hieße, auch den Autor seiner Metamorphose für das vermeintliche Vergehen, das ihn in die Verbannung zwang, schuldig zu sprechen.

In Giordano Brunos Sicht des Aktaion-Mythos stellt sich die Schuldfrage nicht. Der Jäger in seiner Schrift Degli heroici furori (1587) verfolgt sein Ziel, die Gottheit zu schauen, die zugleich für den Christengott steht, mit äußerster Leidenschaft. Er übersieht dabei den Körper auf eine ihn transzendierende Weise.

Den unverhüllten Abglanz des Göttlichen schauen zu wollen bedarf keiner Rechtfertigung. Heroische Leidenschaften sind für Bruno keine niederen Triebe. Ins verborgene Dickicht, in das sich die idealen Begriffe zurückgezogen haben, pirscht sich der geistliche Ekstasenjäger an die Wahrheit, indem er seine besten Seelenkräfte von der Leine lässt. In dieser Allegorie ist Bruno klar, dass sich in der Physis immer nur Vergänglichkeit widerspiegelt, nie die Wahrheit, die ewig ist. Und dass Aktaion die seichte Welt der Erscheinungen nicht gesucht haben kann.

Das entspricht der allgemeinen Disqualifizierung der Sinneswahr­neh­mungen im Mittelalter, da durch das Sehen immer nur die Akzidenzien wahrgenommen werden können, nie das Wesen. Der Mensch sollte die Aussage des Worts nicht empirisch überprüfen, sondern glauben. Die große Zeit der Erfahrungswissenschaften brach gerade erst an. Mit ihr, mit der beginnenden Renaissance, setzte eine Umwertung der Neugier ein. Vorwitz, bzw. in einer älteren Schreibweise Fürwitz wird zu einem Schlüsselwort des Zeitenwandels. Zwar enden viele Geschichten mit dem Motiv, dass der menschliche Vorwitz bestraft wird, doch sind es gerade die klammheimlichen Helden der Neuzeit, die diese Eigenschaft auszeichnen (Degli heroici furori erschien im selben Jahr mit dem „Volksbuch“ von Faust,1587). Brunos Werk fällt in diese bedeutende Umbruchszeit – auch er ist ein Zerrissener zwischen mittelalterlicher Gläubigkeit und neuzeitlichem Erfahrungshunger.

Bruno greift die tradierte Deutung auf, dass es sich bei Aktaion um jemanden handelt, der sich zu Tode verausgabt. Aber nicht, dass sich jemand ruiniert, kritisiert Bruno; die Frage ist, wofür er seine Gesundheit, sein Leben opfert.

Die Liebe verändert den Liebenden, verwandelt ihn, gleicht ihn dem begehrten Subjekt an. Verstehen, so Giordano Bruno, verlange Kongruenz. Um eine Gottheit als solche zu erkennen, müsse die Göttlichkeit des Erkennenden geweckt werden. Die Göttin sublimiert seine Leidenschaft und verwandelt ihn, nicht in ein Tier, sondern in ein gottähnliches Wesen. Verwandlung konnte ohnehin nur eine mutatio moralis bedeuten, denn wörtlich verstanden würde die Umwandlung von Menschen in Tiere die von Gott geschaffene Ordnung durchkreuzen. Noch 250 Jahre später erschrak Charles Darwin über seine Entdeckung, dass die Arten keinesfalls ein für allemal festgelegt, sondern wandelbar, sind.

Aktaion – so Bruno – habe die Gottheit verinnerlicht, müsse sie nicht mehr außerhalb seiner selbst suchen. Auf den fragmentierenden Blick durch die Lücken im Laub des Waldes ist er nicht angewiesen. Aktaion wird ganz zum Auge, und das Auge zum Symbol der Vernunft.

 

XII.

Vernunft wird nicht erst seit Nietzsche mit dem Apollinischen verbunden. Artemis ist die Zwillingsschwester des Apollon; Aktaions Vater Aristaios das Ergebnis der Vereinigung Apollons mit einer Nymphe (Kyrene).

Zugleich ist Aktaion mit dem verwandt, was von Nietzsche als Gegenbegriff zum Apollinischen aufgefasst wird, mit dem Dionysischen. Aktaions Mutter ist die Schwester der Dionysos-Mutter Semele; Dionysos also Aktaions Cousin, wie er ein Enkel des Theben-Gründers Kadmos.

Aktaion, in dem das apollinische Prinzip väterlicherseits und das Dionysische mütterlicherseits zusammentreffen, ist einer Zerreißprobe zwischen Vernunft und Ekstase ausgesetzt. Er hält ihr nicht stand, wird zerrissen, und kein Schamane, kein Zauberer, kein Gott vereint seine Teile zu einem neuen Ganzen. Er starb an einer Überdosis Dionysischem.

Anders gesagt: Zu viel aus der Familie der Mutter, zu wenig aus der des Vaters, machen ihn anfällig für Schwärmerei, für die Ekstase, bis in den Tod. Doch durch sein Vorwitz, seine polypragmosýne, hat Aktaion erreicht, dass sein Fall bis heute diskutiert wird. Seit den ersten bekannten Erwähnungen seines Namens in den pseudo-hesiodianischen Fragmenten sind das immerhin rund 2.700 Jahre. Aktaion ist keiner jener antiker Helden wie Herakles oder Odysseus, dessen Tod nur der letzte Akt einer Reihe ruhmvoller Taten wäre. Eine einmalige Grenzüberschreitung mit tödlichem Ende machte ihn berühmt, ein exemplarischer Fall von Vorwitz, curiositas, polypragmosýne.

 

[Aus rechtlichen Gründen wird auf die Wiedergabe der Abbildungen verzichtet. Für diejenigen Lesern, die eigenständig nach den dazugehörenden Abbildungen recherchieren möchten, seien hier die Nachweise aus der Vortragsfassung genannt:]

Bildnachweise:

Die während des Vortrags in der VHS Düsseldorf eingeblendeten Bildbeispiele sind – bis auf die unten genannten Ausnahmen – dem Katalog zur Ausstellung entnommen: Diana und Actaeon. Der verbotene Blick auf die Nacktheit. Hg.: Beat Wismer und Sandra Badelt. Hatje Cantz Verlag, Ostfildern, 2008.

Die Ausstellung wurde vom 25.10.2008 – 15.02.2009 im museum kunst palast, Düsseldorf, gezeigt. Idee und Konzept: Beat Wismer. Kuratoren: Beat Wismer mit Sandra Badelt und Mattijs Visser.

Nicht im Ausstellungskatalog enthalten sind die folgenden Bildeinblendungen:

–          alle Buchcover, Internetseiten, Texte, die als Quellenangaben zu den Zitaten dienen,

–          Venus von Milo, Diana-Statue: google Bilder (S. 1),

–          Kunsthandwerkliche Beispiele (S. 3): Diana mit Hirsch: Ebay; Diana auf Hirsch: Schatzkammer Burg Eltz,

–          Illustration zum Stichwort „Bekleidungsunfall“ (S. 11): Zeitschrift Frigidaire, Ottobre 1981. N. 11. Primo Carnera editore, Milano,

–          Beispiel zur Modefotografie (S. 11): eigener Scan, bearbeitet mit Photoshop, Fotograf und Model nicht mehr feststellbar,

–          Holzschnitt auf S. 18: Giovanni dei Bonsignori, 1497,

–          3. Beispiel für einen “Gehörnten” (S.18): google Bilder,

–          Illustrationen zum Lago di Nemi (S. 19): 1) Joseph Mallord William Turner: The Golden Bough, Tate Gallery; 2) John Robert Cozens: Lago di Nemi.

–          Illustration zum “christianisierten Hirsch” (S. 20): AlbrechtDürer: Hlg. Eustachius,

–          Buchseiten aus dem Ovide moralisée (S. 20),

–          Holzschnitt mit Text aus Niccoló degli Agostini, 1522 (S. 20).