136 – Statik und Spiel

Wolfgang Cziesla: DER FIRWITZ – 136. Teilabriss

STATIK UND SPIEL

8. November 2014

Das Firfach-Schachbrett mit seinen 256 Quadrätchen könnte das Bemühen abzeichnen, Leben in kleinkarierte Ordnung zu zwängen. Das Füllen der Felder mit Inhalten, wenngleich dieser Prozess zu meinen Lebzeiten voraussichtlich zu keinem Abschluss kommen wird, ist jedoch lediglich ein Beginn. Sozusagen das Aufstellen der Figuren. Danach (oder bereits zugleich?) kann das Spiel beginnen.

Wäre Georg auf Feld 207 – nur mal als Beispiel – ein Springer, könnte er sich in Rösselsprüngen über das Brett bewegen und entweder die noch unbesetzten Plätze 176, 221 oder 238 einnehmen oder aber die „Pyrrhonische Skepsis“ (Feld 174) schlagen, den „Nationalstolz und Relativismus“ hinauswerfen oder sich an die Stelle des Lieds „Selbstermahnung zur Reife“ placieren. Die neuen Positionen könnten Ausgangspunkte für weitere Reisen sein.

Wäre Petra eine Dame (vielleicht ist sie das), ihre Bewegungsmöglichkeiten wären immens – so lange es noch viele freie Felder gibt; später kann sie immer nur ihren Nebenmann rechts, links, oben, unten oder schräg wegrempeln.

Gabriele auf Position 35 war zwar (später) eine Frau, als Dame habe ich sie jedoch nicht erlebt. Eher als Turm. Nach der bisherigen Aufstellung stieße sie links auf die „Autisten und Junggesellen“, rechts liefe sie zu meinem Gedicht „Naturalistisches Drama“, nach oben könnte sie mir helfen, mein erstes Osterei zu zeichnen, und senkrecht nach unten geriete sie erst im Feld 83 zur „kleinen Geschichte des Fürwitzes“.

Die Dynamik des Spiels generiert jede Menge Geschichten. Freilich lassen sich den Eigenschaften von Springern, Türmen, Läufern, Bauern oder Damen nicht nur Personen zuordnen, sondern auch die verschiedensten Themen. So scheinen mir das Patagonien-Tagebuch oder die Stempel afrikanischer Länder im Reisepass von 1980 typische Läufer zu sein, während „Die Entstehung des Original Firwitz-Blattes“ oder die Kartei mit den Wortbelegen wohl den Türmen zuzurechnen sind; ebenso die „Stoischen Gorillas“.

Gibt es auch Könige in meinem Spiel? Eher nicht. Ich wüsste sonst auch nicht, wie viele. Die beiden des klassischen Schachspiels, multipliziert mit vier? Und wann wäre dann das Spiel beendet? Wenn der erste König kippt, oder wenn die Hälfte aller Könige fallen? Ich möchte nicht, dass das Spiel endet. Und falls doch, muss es ungewiss bleiben, wer die Verlierer und wer die Gewinner sind.

 

[Nachtrag am 9. November 2014]

Als nicht-militanter Spieler sollte ich überlegen, ob ich nicht auch zwei oder mehr Figuren gestatten möchte, sich auf ein und demselben Feld aufzuhalten. Den Verdrängungs- und Beseitigungssport umzuwandeln in einen Raum der Inklusion. Versammlungsfreiheit für die Bauern und Läufer. Auf den Feldern des Schachbretts Ehen und Wohngemeinschaften zulassen. Warum muss die weiße Dame den schwarzen König oder den Läufer bedrohen und töten? Warum flirten sie nicht und heiraten? Familien- und Gruppenbildung fördern anstelle der Existenz- und Territorialkämpfe. Schach bieten im verführerischen Ton fernmündlicher Fellatio-Offerten. Eine Softie-Version des martialischen Strategiespiels. Als ich in die Pubertät kam, war Woodstock.

[aus dem Notizbuch Nr. 60]