Wolfgang Cziesla: DER FIRWITZ – 164. Teilabriss
Fragmente zur Ununterscheidbarkeit
„Die Austauschstudentin“ und „Kaffeetrinken in Cabutima“ sehen aus wie Bücher, verhalten sich auch wie Bücher, wenn man sie in die Hand nimmt, darin blättert, zu lesen beginnt. Sie gleichen Büchern wirklich sehr, sind aber keine.
Auf dem Fresko „Die Predigt und die Taten des Antichrist“ im Dom von Orvieto hat Luca Signorelli den Teufel dargestellt, der die Gestalt Christi angenommen hat, um die besonders Frommen auf seine Seite zu bringen. Er gleicht Jesus aufs Haar. Woher erkennt der Betrachter – abgesehen von dem diabolischen Einflüsterer an seiner Seite – dass es sich bei der Figur nicht um Jesus handelt, sondern um den Antichrist? Äußerlich gibt uns der Künstler allenfalls sehr dezente Hinweise, wie die vielleicht etwas zu spitzen Ohren. Aber der Betrachter soll den Unterschied zwischen Christus und Antichrist nicht an seinem Äußeren erkennen; er soll ihn irgendwie wissen, spüren. So wie sich der Fromme durch keine noch so perfekte Mimikri täuschen lässt.
Es gibt das Krankheitsbild des Capgras-Syndroms. Die Ehefrau kommt in die Wohnung, und der Mann weiß, es ist nicht seine Frau. Sie sieht aus wie seine Frau, bewegt sich so und spricht auch wie seine Frau, aber sie ist es nicht. Jemand, der ihm Böses will, hat seine Frau entführt, geklont und sendet ihm jetzt dieses Double, das ihn umbringen soll. Geht man beim Capgras-Patienten von seinem Irrtum aus, soll der, der den Teufel in Gestalt Christi für den Teufel hält, Recht behalten.
Lassen Sie sich von der „Austauschstudentin“ oder „Kaffeetrinken in Cabutima“ nicht täuschen. Es sind keine Bücher. Es sind nicht einmal Teilabrisse des „Firwitz“.
Was aber nicht heißen soll, dass beide Werke schlechter wären als viele andere Bücher. Im Gegenteil.
[11.05.2013]
[Ursprünglicher 164. Teilabriss: Die Austauschstudentin (Roman, Firwitz Verlag, Köln, 2004, Vorzugsausgabe, Exemplar Nr. 1)]