182 – Der stoische Roman

Wolfgang Cziesla: DER FIRWITZ – 182. Teilabriss

DER STOISCHE ROMAN

  1. Nichts passiert
  2. Die Figuren verändern sich nicht
  3. Der stoische Roman ist weder plot-driven noch character-driven, es ist kein psychologischer Roman
  4. Die Situation am Ende des Romans ist die gleiche wie am Anfang. Er ist so geschrieben, wie Mr. Endon in Becketts Roman Murphy Schach spielt: Nach 43 Spielzügen stehen seine Figuren wieder so, als hätte er lediglich zwei Bauern ein Feld nach vorn geschoben (e7–e6 und d7–d6) – das Minimum, um das Spiel in Gang zu halten. Den Rest erledigt der Gegner / der Leser
  5. Es gibt einen – meist männlichen – Protagonisten (jedoch von einer möglichst wenig ausgeprägten Männlichkeit)
  6. Auf innere Monologe wird ebenso verzichtet wie auf personales Erzählen
  7. Es werden keine großen Emotionen beschrieben
  8. Der Protagonist reagiert auf alles gelassen, oder er reagiert gar nicht; er neigt zu Faulheit
  9. Der stoische Roman ist nicht langweilig, dafür sorgen die besondere Sprache, die ungewöhnlichen Überlegungen und die herausfordernde äußere Situation
  10. Der stoische Roman behandelt weder äußere noch innere Konflikte; er ist nicht spannend
  11. Der stoische Roman variiert altbekannte Themen so, dass man sie neu kennenlernt
  12. Es dürfen Elemente vorkommen, die im Leben der meisten Menschen als unrealistisch oder als phantastisch angesehen würden, ohne dass sich der Roman zu sehr an Genres wie Fantasy, Märchen, Science-Fiction oder bekannte Formen der Phantastik annähern sollte
  13. Unerklärliches gehört dazu; es werden keine großen Anstrengungen unternommen, das Unerklärliche zu erklären. Gelegentliches Sich-Wundern gehört zu den legitimen Emotionen des Protagonisten
  14. Der stoische Roman ist im Wesentlichen eine Zustandsbeschreibung, wobei er gewöhnlich solche Grundsituationen menschlichen Daseins aufgreift, welche die Menschheit immer schon gekannt hat, wie zum Beispiel: eine Mutter haben, einen Vater, Kinder haben oder keine Kinder haben, eventuell Geschwister, Geld verdienen müssen, einen Chef oder eine Chefin haben, verkannt werden, neben einem Nachbarn oder einer Nachbarin leben, die große Weltpolitik nicht beeinflussen können, älter werden, krank sein, warten, den Tod der anderen beobachten, wenn reisen, dann eher als Dauerzustand denn als neues Erleben, und so weiter. Möglicherweise befindet sich der stoische Roman auch in einer Nähe zur Allegorie; zwar werden hier nicht unbedingt abstrakte Begriffe (wie „Liebe“, „Gerechtigkeit“ u. s. w.) personifiziert, aber doch bestimmte, die Zeiten überdauernde, Eigenschaften wie z. B. „der Sohn einer Mutter / eines Vaters sein“ ausgeführt
  15. Der Protagonist des stoischen Romans sucht die Beständigkeit. Justus Lipsius‘ De Constantia Libri Duo könnten als Paten der Gattung gelten, wenngleich sie als dialogische Abhandlung verfasst sind. Möglicherweise handelt es bei stoischen Romanen um in Romanform geschriebene Essays oder Consolations-Büchlein
  16. Der Protagonist widersteht dem immensen Reizangebot unserer Zeit. Er lässt sich nicht mitreißen. Der stoische Roman wendet sich keineswegs nur an ein älteres Lesepublikum. In deutlicher Erinnerung daran, wie ich mich in meiner Jugend für die Romane und Theaterstücke Samuel Becketts begeistern konnte, auf die viele der vorangegangenen Beschreibungen zutreffen – und mit meiner Begeisterung war ich nicht allein –, denke ich, dass die Energielosigkeit älterer Menschen und die natürliche Trägheit von Heranwachsenden korrespondieren und gemeinsam einen Gegenpol zu den Leistungszwängen einer auf Gewinnstreben und Konsum ausgerichteten Gesellschaft bilden. Alles andere sind Fragen des Temperaments.

[17. Februar 2022]