237 – Welt ohne Körper

Wolfgang Cziesla: DER FIRWITZ – 237. Teilabriss

Plädoyer für eine körperlose Welt?

In einer Welt ohne Körper gäbe es keine Hämorrhoiden und kein Colonkarzinom, und die Aufzählung, was es sonst alles nicht gäbe, wäre unendlich. Freilich auch keinen Sex, man hätte sich eine Menge Arbeit und Sorgen erspart. Zwar leider auch kein gutes Essen, dafür aber zum Glück auch kein schlechtes, und vor allem wäre man von den Prozessen der Verdauung und Ausscheidung endgültig befreit.

In meiner Jugend war es angesagt, Karl Marx zu lesen oder zumindest bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit von ihm zu reden. Als ich den Namen zum ersten Mal hörte, war ich zugleich enttäuscht zu erfahren, dass er einen historischen und dialektischen Materialismus vertrat. Ein Philosoph eines radikalen Idealismus wäre mir als allgemeines Jugendideal willkommener gewesen. Max Stirner war keine wirkliche Alternative. Er beschäftigte sich noch zu viel mit Religionskritik, ein Thema, mit dem ich als Zwanzigjähriger bereits fertig war, und überhaupt klang „Der Einzige und sein Eigentum“ etwas angestaubt.

Eine Gesellschaft, wie ich sie wollte, war mit der existierenden Menschheit nicht zu machen. Solange so viele Idioten hauptsächlich an ihre eigene materielle Bereicherung dachten, erschien alles hoffnungslos. Eine Welt, in der allen alles gehörte, eine kommunistische Utopie, war aber andererseits auch nicht die Richtung, in die ich weiter denken wollte. Denn mir lag weniger daran, den Besitz geringzuschätzen, als vielmehr die Dinge in ihrer Materialität. Ihre traurige Vergänglichkeit.

Körperlose Ideen – konnte es sie geben? Benötigten nicht auch die Gedanken einer Verankerung im Universum der Materie? Ein denkendes Hirn wollte ich gelten lassen. Mein eigenes. Mit nichts drum herum. Aber auch das Hirn, die Basis meines Ichs, war dem Verfall ausgesetzt. Wie die Gedanken in ein reines, körperloses Reich der Ideen überführen?

Ich wollte, und will noch immer, das Unmögliche. Nicht um Unmögliches zu verwirklichen, sondern um ihm seinen abgehobenen Status der Unmöglichkeit zu belassen. Ich spüre eine warme, erfüllte Liebe zur Unmöglichkeit in der S-Bahn Linie 1, kurz hinter Angermund, eine Liebe, die in der materiellen Welt bis weit hinter Derendorf anhält. Beim Aussteigen am Düsseldorfer Hauptbahnhof aber werde ich mich wieder fast ganz durch die Welt der Körperlichkeiten bewegen. Hoffentlich sind schöne Körper darunter.

 

[aus dem Notizbuch Nr. 56, Eintrag vom 24.07.2012, auf dem Weg zur Arbeit]